MonografienFertilität, Familie, Gesellschaft und Politik. Wechselwirkungen zwischen familialem Handeln und gesellschaftlichen Strukturen
Habilitationsschrift
Bujard, Martin (2020)
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
DOI: 10.25358/openscience-5456
Die Familie und ihr gesellschaftlicher und politischer Kontext haben in den letzten Jahrzehnten starke Wandlungen durchlaufen. Diese Habilitationsschrift untersucht systematisch die Wechselwirkungen zwischen familialem und generativem Handeln einerseits sowie von Gesellschaft und Politik andererseits. Welche Konsequenzen hat die Geburtenentwicklung für die Gesellschaft? Wie beeinflusst der familiale Wandel die Familienpolitik? Unter welchen Bedingungen wirken sich politische Maßnahmen auf Müttererwerbstätigkeit und Fertilität aus? Entsteht ein neues Gleichgewicht zwischen Staat und Familie? Empirische Grundlage sind Arbeiten auf Basis elf verschiedener Datenquellen Deutschlands wie unter anderem Zensus, Mikrozensus, SOEP, pairfam, Familienleitbildstudie, Zeitverwendungserhebung und INKAR, die mithilfe eines breiten Spektrums quantitativer Methoden analysiert und durch qualitative Analysen medialer und politischer Diskurse ergänzt werden.
Die Analysen zeigen, wie die Geburtenentwicklung in vielfältiger Weise die Gesellschaft und Wirtschaft sowie die Sozialsysteme beeinflusst und dass der Wandel der Familie und das jahrzehntelange Geburtentief bei politischen Veränderungen eine maßgebliche Rolle gespielt haben. Dies wird anhand des Elterngeldes gezeigt, wobei das Agenda-Setting und die Kommunikation verschiedener Ziele maßgeblich waren. In umgekehrter Richtung zeigen die Arbeiten, dass politische Maßnahmen wie der Ausbau der Kinderbetreuung und die Einführung des Elterngeldes eine erhebliche Wirkung auf den Anstieg der Müttererwerbstätigkeit und – zumindest bei Akademikerinnen – der Geburtenentwicklung entfalten können. Sie verdeutlichen aber auch, wie dieser Einfluss von unterschiedlichen kulturellen, soziodemografischen und regionalen Faktoren abhängt und teilweise zeitverzögert auftritt. Die Habilitationsschrift verdeutlicht, dass die Wechselwirkungen zwischen dem familialen Verhalten und der Gesellschaft beziehungsweise Politik dynamisch ansteigen, da die Gesellschaft die Reproduktionsfunktion der Familie und zunehmend die Erwerbstätigkeit beider Eltern benötigt und der Staat im Sinne der Defamilialisierung zunehmend Care-Leistungen übernimmt. Jedoch wird die in der Literatur verbreitete These eines neu entstehenden Gleichgewichts von Staat und Familie kritisch hinterfragt, da es nicht nur bezüglich anhaltender Gender-Differenzen erhebliche Widersprüche gibt: Auch die weiterhin niedrige Geburtenrate, wie gezeigt wurde vor allem bedingt durch den Rückgang kinderreicher Familien, widerspricht der Gleichgewichtsthese. Zentraler Widerspruch allerdings ist die hohe zeitliche Belastung an Erwerbs- und Familienarbeit bei Müttern und Vätern in der „Rushhour des Lebens“, also der Phase mit Kindern unter sechs Jahren. Aufgrund dieses Ungleichgewichts ist auch zukünftig ein hoher Veränderungsdruck auf die Familienpolitik und die Lebensrealitäten von Familien zu erwarten.