7. Stadt, Land, Dazwischen
Von Nikola Sander, Nico Stawarz und Hannes Taubenböck
Veröffentlicht in FAZ.NET am 27.06.2023
Die Trends der Binnenwanderung spiegeln die Präferenzen für städtische oder ländliche Wohnorte wider. Lange Zeit haben die Städte vom Zuzug profitiert. Vor einigen Jahren hat sich der Trend umgekehrt. Gute Aussichten für das Land?
Wenn wir über Stadt und Land nachdenken, verbinden wir mit diesen Begriffen bestimmte Erinnerungen, Gefühle und Erfahrungen. Beim Begriff „Stadt“ denken wir häufig an vielfältige kulturelle Angebote, einen gut ausgebauten ÖPNV oder kurze Wege zu alltagsrelevanten Dienstleistungen wie Supermärkte, aber auch an hohe Mieten, verstopfte Straßen und einen hohen Lärmpegel. Mit dem Begriff „Land“ verbinden wir hingegen Leben im Grünen, Wohneigentum mit Garten und gute Naherholungsmöglichkeiten, aber auch weite Wege zum Hausarzt, schlechte Verkehrsanbindung oder einen Rückstand beim Ausbau des Internets. Diese Aufzählung ließe sich ohne weiteres fortführen.
Auch aus bevölkerungswissenschaftlicher Perspektive ist die Unterscheidung von Stadt und Land von großer Bedeutung, da sie hilft, die räumliche Verteilung der in Deutschland lebenden Bevölkerung sowie deren Altersstruktur zu analysieren und zu verstehen. Dieses Wissen ist wiederum für die Analyse der Lebensbedingungen auf regionaler Ebene, für politische Entscheidungen und Planungsprozesse wie den Ausbau von Verkehrswegen, Kitas und Schulen sowie die Schätzung von Steuereinnahmen von Bedeutung.
Ein neuer Trend?
Deutschlands Bevölkerung ist durch eine niedrige Geburtenrate und eine relativ hohe Lebenserwartung gekennzeichnet. Wie sie sich zwischen Stadt und Land verteilt, ist neben der Einwanderung aus dem Ausland stark von der Binnenwanderung abhängig. Umzüge innerhalb Deutschlands tragen entscheidend zu Veränderungen in der Bevölkerungsverteilung zwischen Stadt und Land bei. Insgesamt haben wir über den Zeitraum 2012 bis 2021 ein Wachstum aller kreisfreien Städte (mit der Ausnahme von Oberhausen) beobachtet, welches sich aus dem Zusammenspiel von Einwanderung, Binnenwanderung und mehr Geburten als Sterbefällen ergibt.
Dr. Nikola Sander leitet den Forschungsbereich „Migration und Mobilität“ am BiB.
Quelle: © Peter-Paul Weiler
Schaut man aber gezielt nur auf die Binnenwanderungsdaten der vergangenen Jahre, so messen wir einen Trend hin zu Wanderungsverlusten für die Städte. In den beiden ersten Jahren der COVID-19-Pandemie, also 2020 und 2021, hat sich dieser Trend noch einmal verstärkt. Betrugen die Wanderungsverluste der Städte 2019 im Durchschnitt -0,3 Prozent, waren es in den Jahren 2020 und 2021 rund -0,5 Prozent. Aber bedeutet dies, dass Menschen nun häufiger aufs Land ziehen? Erleben wir eine Wiederbelebung des Landlebens? Diese Schlussfolgerung ist, wie wir sehen werden, mitunter trügerisch, denn sie hängt davon ab, anhand welcher Kriterien wir Stadt und Land abgrenzen.
Zunächst muss festgestellt werden, dass die „Stadtflucht“ keineswegs ein neues Phänomen ist. In den 1990er Jahren – und insbesondere in den neuen Bundesländern – war eine ähnliche Entwicklung zu beobachten. Damals zogen besonders viele Menschen aus den Städten weg und bauten Häuser vor allem in den Vororten der Städte. Die Folge war eine intensive Suburbanisierung, also eine Zunahme der Bevölkerung in vormals gering verdichteten städtischen Randgebieten. In den 2000er Jahren drehte sich dieser Trend um: Die Menschen zogen vermehrt in die größeren Städte. Die Phase der Bevölkerungsgewinne durch Binnenwanderung dauerte etwa ein Jahrzehnt, ohne dass heute ganz klar wäre, welche Faktoren diese Trendumkehr bewirkt haben. Sicher spielte der Wunsch nach einem städtischen Leben mit vielfältigen kulturellen Angeboten eine Rolle, aber auch die stärkere Konzentration von Jobs im Dienstleistungssektor und in wissensbasierten Berufen in den Städten.
Das Wachstum der größeren Städte erreichte in den späten 2000er Jahren seinen Höhepunkt. In dieser Zeit kam es dort aufgrund der Binnenwanderung zu einem durchschnittlichen Bevölkerungswachstum von 0,4 Prozent pro Jahr. Für eine Großstadt mit 500.000 Einwohnern entspricht dies einem jährlichen Bevölkerungszuwachs aufgrund der Binnenwanderung von 2.000 Personen. Eine der am stärksten wachsenden Großstädte war München, welches im Jahr 2006 einen Zuwachs von knapp 30.000 Personen (oder 2,3 Prozent) verzeichnete.
Hinzu kommt auch noch die Einwanderung, die sich vor allem auf die Großstädte fokussiert. Die aus der Ein- und Binnenwanderung resultierende Nachfrage nach Wohnraum führte in vielen Großstädten zu hohen Mieten und Wohnungsknappheit. Hierzu trug auch ein gestiegener Anspruch an Wohnfläche pro Kopf bei: 1995 waren es 36 Quadratmeter pro Kopf, heute sind es fast 48 Quadratmeter. Aus unseren Untersuchungen wissen wir, dass ab 2012 die gestiegenen Mieten mehr Menschen dazu bewogen, aus den Städten wegzuziehen oder diese zu meiden. Stattdessen wählten sie eher das unmittelbare Umland als Wohnort. Dies verdeutlicht empirisch, dass es häufig nicht die klischeehafte Sehnsucht nach einem Leben auf dem Land oder im Grünen ist, die die Menschen dazu bewegt, aus den Städten abzuwandern. Oftmals sind es ganz praktische Gründe.
Dr. Nico Stawarz leitet das Projekt zu Binnenwanderung am BiB.
Quelle: © Peter-Paul Weiler
Die aktuelle, seit dem Jahr 2014 anhaltende Phase der Abwanderung aus den Städten ins Umland geht – wie schon in den 1990er Jahren – vor allem mit einem verstärkten Wegzug von Familien einher. Der Trend der Suburbanisierung hat sich während der COVID-19-Pandemie noch einmal verstärkt. Neben dem Wegzug der Familien aus der Stadt war hierfür auch der vorübergehende Rückgang des Zuzugs junger Erwachsener in die Städte für eine Ausbildung oder ein Studium verantwortlich. Vielfach diskutiert werden zudem die Folgen der Ausweitung von Homeoffice während der Pandemie. Neben den Auswirkungen auf die Arbeitszufriedenheit und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf kann dies auch zu Veränderungen beim Umzugs- und Pendelverhalten führen. So könnte die Entscheidung häufiger zugunsten eines vom Arbeitsort weiter entfernten Wohnorts ausfallen, da die längeren Arbeitswege dann seltener bewältigt werden müssen. Allerdings deuten erste Untersuchungen darauf hin, dass dies nur dann der Fall ist, wenn an mehreren Tagen in der Woche ganztags im Homeoffice gearbeitet wird.
Trotz der aktuellen „Stadtflucht“, die sich zwar in den Zahlen zeigt, aber kein Massenphänomen darstellt, gehen wir und andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davon aus, dass sehr ländlich geprägte Regionen in Deutschland weiterhin an Bevölkerung verlieren werden. Dies betrifft vor allem randständige Regionen wie Teile des Saarlands, den Bayerischen Wald oder den Harz. Für diese Prognose sprechen sowohl die anhaltende Wanderung junger Erwachsener vom Land in die Stadt als auch die Tatsache, dass sich Einwanderung vor allem auf die Städte konzentriert.
Wo ist die Grenze?
Kehren wir an dieser Stelle zu unseren Assoziationen mit den Begriffen „Stadt“ und „Land“ zurück. Unsere oftmals klischeehaften Vorstellungen lassen sich nicht einfach in eine unanfechtbare Klassifikation von Stadt und Land überführen. Für die Ausweisung von „Stadt“ und „Land“ in Bevölkerungsstatistiken gibt es verschiedene Herangehensweisen, die u. a. von konzeptuellen Überlegungen oder der Wahl von Schwellenwerten abhängen. Unter Schwellenwerten versteht man die Definition, ab wann man ein Gebiet als urban einstuft. So gelten beispielsweise Kommunen ab 5000 Einwohnern in Deutschland als urban.
Gerade aber die in der Bevölkerungsstatistik und eben auch für die Erfassung der Binnenwanderung verwendeten administrativen Raumeinheiten (Gemeinden, Kreise) sind eine Hürde für die Abgrenzung von „Stadt“ und „Land“. Denn administrative Raumeinheiten sind nicht geeignet, um genaue Aussagen über den Charakter des Wohnortes treffen zu können. Insbesondere in den neuen Ländern gab es in den 1990er Jahren Gebietsreformen, die zu sehr großen Kreisen geführt haben. Letztlich ist auf Grundlage der Kreise allenfalls eine sehr grobe Einordnung in eher „städtisch“ oder „ländlich“ möglich, da der Gebietscharakter innerhalb eines Kreises sehr stark variieren kann. Infolgedessen klassifizieren wir dann fälschlicherweise eine eher städtisch geprägte Landnutzung innerhalb eines überwiegend ländlich geprägten Kreises als ländlich. Hierzu ein kurzes Beispiel: Das im Bundesland Brandenburg gelegene Umland von Berlin wird in der Bevölkerungsstatistik überwiegend als „Land“ klassifiziert, aber in Wirklichkeit handelt es sich um den suburbanen Raum von Berlin, aus dem täglich viele Menschen zu ihrer Arbeitsstätte in Berlin pendeln.
Für die Bevölkerungsstatistiken wirft das ein weiteres Problem auf: Die einfache Unterscheidung zwischen Stadt und Land wird der Komplexität von Raumstrukturen nicht gerecht. Eine weitere Kategorie ist jene, die wir als Umland oder suburbanen Raum bezeichnet haben. Sie meint einen Zwischenraum mit oftmals geringerer Bebauungsdichte und ohne Blockbebauung, also Wohnorte, die strukturell nicht der klischeehaften Vorstellung von Stadt entsprechen. Gleichzeitig sind diese Orte über die Verkehrsinfrastruktur eng mit der Stadt verknüpft und bieten Wohnraum für einen Teil der städtischen Arbeitsbevölkerung.
Deutschland ist weniger urbanisiert als gedacht
Wie lassen sich nun die Grenzen zwischen städtischem, ländlichem und suburbanem Raum ziehen? Einen einheitlichen in der Verwaltung wie in der Wissenschaft allgemein akzeptierten Ansatz gibt es nicht. Die meisten Methoden bauen auf relativ groben administrativen Vorgaben wie Kreis- und Gemeindegrenzen auf. Wir können mittlerweile jedoch Gebäudemodelle und Satellitendaten nutzen, um sehr detaillierte und kleinräumige Einteilungen zu erhalten. Vereinfacht gesagt bestimmen wir mittels eines Algorithmus, wo tatsächlich ein Gebäude steht, ob es sich dabei etwa um ein Einfamilien-, Doppel-, Reihen- oder Mehrfamilienhaus handelt und ob die Nachbarschaft durch hohe Gebäude- oder Bevölkerungsdichten charakterisiert wird oder die Gebäude eher fragmentiert und gering verdichtet angeordnet sind. Anhand dieser Auswertungen der bebauten Landschaft bzw. der Bevölkerungsdichte lassen sich dann Aussagen über den städtischen oder ländlichen Charakter auf lokaler Ebene treffen. Auf dieser Basis ist es möglich, auch innerhalb administrativer Grenzen Wohnorte nach ihrer lokalen Umgebung zu klassifizieren.
Prof. Dr. Hannes Taubenböck leitet die Abteilung „Georisiken und zivile Sicherheit“ am Erdbeobachtungszentrum des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt und hat den Lehrstuhl für Globale Urbanisierung und Fernerkundung an der Universität Würzburg inne. Er ist zudem BiB Fellow.
Quelle: © Astrid Eckert
Was zeigen unsere Auswertungen mit der neuen Methode, die uns Stadt und Land wesentlich präziser bestimmen lässt? In Deutschland leben nach unseren Berechnungen fünfzig Prozent der Bevölkerung in verdichteten, urbanen Siedlungsstrukturen, die aber nur zwei Prozent der Fläche Deutschlands bedecken. Nur fünf Prozent der Bevölkerung leben dagegen tatsächlich auf dem Land, das dafür aber etwa 32 Prozent der Fläche ausmacht. Interessanterweise leben 45 Prozent der Bevölkerung in Übergangsregionen, die weder eindeutig städtisch noch ländlich sind. Das sind unter anderem die sogenannten Speckgürtel, die Randgebiete der Städte. Sie sind in den vergangenen Jahren die Gewinner der Abwanderung aus den Städten gewesen.
Das legt den Schluss nahe: Wenn Menschen aus der Stadt abwandern, ziehen die meisten nicht wirklich aufs Land, sondern eher in den suburbanen Raum. Unsere neuen Auswertungen verdeutlichen zudem, dass der Grad der Urbanisierung, welcher nach konventionellen Methoden für Deutschland mit mehr als 80 Prozent angegeben wird, vermutlich überschätzt wird. Deutschland ist also weit weniger urbanisiert als gemeinhin angenommen. Am anderen Ende des Spektrums zeigen unsere Auswertungen aber auch, dass es weniger wirklich ländlich geprägte Siedlungsstrukturen gibt als bisher angenommen. So widerlegen unsere Ergebnisse die Aussage, dass 90 Prozent der Fläche Deutschlands ländlich geprägt seien. Ein großer Teil dieser Fläche ist eher der Übergangskategorie zuzuordnen.
Der demographische Wandel in Stadt und Land
Werden in Zukunft mehr Menschen in verdichteten, urbanen Siedlungsstrukturen wohnen? Oder werden die Übergangsregionen die Gewinner des demographischen Wandels sein? Wie sich die Bevölkerung in städtischen, suburbanen und ländlichen Regionen in Zukunft entwickeln wird, hängt von vielen Faktoren ab. Dazu zählen die Entwicklungen der Geburtenraten, der Sterberaten, der Migration sowie Veränderungen in der Politik und Wirtschaft. Im Zuge des demographischen Wandels wird die Bevölkerung in Stadt und Land weiter altern. Dies bringt eine Reihe von sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen mit sich, etwa für die Gesundheitsversorgung und die Ausbildung von Fachkräften. Binnen- und Einwanderung haben einen starken Einfluss auf die regionale Bevölkerungsentwicklung. Für ländliche Gebiete bedeutet dies oft eine Abnahme der Bevölkerung, eine Alterung der verbleibenden Bevölkerung und Herausforderungen bei der Bereitstellung von Dienstleistungen und Infrastruktur. Die größten Städte hingegen werden weiterhin mit wachstumsbedingten Herausforderungen wie steigenden Wohnkosten und sozialer Ungleichheit konfrontiert sein. Die suburbanen Regionen werden – so die Prognosen – in absehbarer Zukunft weiter an Bevölkerung gewinnen. Gerade diese Regionen sollten in den politischen Debatten über gleichwertige Lebensverhältnisse nicht durchs Raster fallen.
Bei der Gestaltung des demographischen Wandels in Stadt und Land spielen Politik und Planung eine wichtige Rolle. Notwendig sind eine nachhaltige, zukunftsorientierte Raumentwicklung und Raumplanung sowie eine differenzierte Betrachtung der Frage „Wo wohnen wir? In Stadt, Land, oder dazwischen?“. Viele Statistiken, sei es nach Wohnortpräferenzen, sei es nach regionaler Identität, sei es nach politischen Haltungen oder anderen Variablen, beziehen sich auf den Gegensatz von Stadt und Land. Unsere Analysen zeigen aber, dass diese Abstraktion zu vereinfachend ist und daher eine suboptimale Handlungsgrundlage für politische und planerische Entscheidungen darstellt.
Nehmen wir als Beispiel die politische Maßgabe, jedes Jahr in Deutschland 400.000 neue Wohnungen zu bauen. Wo welche Wohnformen gebaut werden sollen, ist eine wichtige planerische Entscheidung, die auf den Wohnungsmarkt ausgleichend wirken kann. Das politische Metanarrativ, welches auf konventionellen Methoden beruht und besagt, dass Urbanisierung in Deutschland mit mehr als 80 Prozent weit vorangeschritten sei, impliziert andere Antworten als unsere neueren Analysen, die besagen, dass nur 50 Prozent der Bevölkerung in verdichteten, urbanen Siedlungsstrukturen leben. Es ist daher notwendig, eine differenzierte und kleinräumige Bewertung des Grades der Urbanisierung vorzunehmen.
Letztlich ermöglicht eine genauere Betrachtung der Frage „Wo wohnen wir?“ eine fundiertere Debatte darüber, wo neuer Wohnraum geschaffen werden sollte. Für politische Entscheidungen gilt es, dabei ökologische, ökonomische und soziale Aspekte auszubalancieren.
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