Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung

Demographischer Wandel: Weiter und anders diskutiert...

In 12 Essays von Beschäftigten des BiB gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen anderer Forschungseinrichtungen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und in der FAZ von Mai bis August 2023 veröffentlicht.

6. Einwanderung im internationalen Wettbewerb gestalten

Von Andreas Ette und Irena Kogan

Veröffentlicht in FAZ.NET am 20.06.2023

Einwanderung wird auch künftig eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der demographischen Herausforderungen spielen. Fachkräfte für den deutschen Arbeitsmarkt im Ausland zu gewinnen wird aber nicht leichter.

Ohne den Zuzug aus dem Ausland schrumpft die Bevölkerung, und insbesondere die Zahl der Erwerbstätigen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen: Darin sind sich alle Vorhersagen über die Entwicklung der Bevölkerung in Deutschland einig. Schon in den vergangenen Jahren hat sich die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter trotz Einwanderung um durchschnittlich mehr als 60.000 im Jahr verringert.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) geht bereits seit längerem davon aus, dass eine Nettozuwanderung von durchschnittlich 400.000 Personen im Jahr das Erwerbspersonenpotenzial auch langfristig weitgehend konstant halten würde. Ein Blick zurück auf die vergangenen drei Jahrzehnte zeigt aber, dass im jährlichen Durchschnitt gut 300.000 Menschen mehr nach Deutschland zugezogen sind als fort.

Das ist zwar viel, ist aber immer noch deutlich weniger als der für die kommenden Jahre prognostizierte Bedarf. Mit dem gegenwärtigen Ausscheiden der Babyboomergeneration aus dem Arbeitsmarkt ist die Schließung der verbleibenden Lücke durch mehr Einwanderung eine zentrale Handlungsoption.

Das Einwanderungsland erfindet sich neu

Der demographische Wandel ist nicht neu, und auch die Politik hat bereits früh damit begonnen, über die Auswirkungen von sinkenden Geburtenzahlen und steigender Lebenserwartung zu diskutieren. Die Gestaltung der Einwanderung wurde in der politischen Diskussion in Deutschland aber lange Zeit nicht als Aufgabe gesehen, die der demographische Wandel mit sich bringt.

Noch im Jahr 1998 argumentierte eine im Deutschen Bundestag eingerichtete Enquete-Kommission, dass Einwanderung die Handlungszwänge, die von dem demographischen Wandel ausgingen, nicht entscheidend verändern könne. Erst mit der Jahrtausendwende begann sich der öffentliche Diskurs über Einwanderung in diesem Kontext zu wandeln.

Die Verabschiedung der „Verordnung über die Arbeitsgenehmigung für hochqualifizierte ausländische Fachkräfte der Informations- und Kommunikationstechnologie“ im August 2000 – landläufig als deutsche „Green Card“ bezeichnet – setzte für die Zukunftsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland voraus, dass gesteuerte Einwanderung unabdingbar sei. Die damalige Begrenzung auf 20.000 Arbeitsbewilligungen zeigt, wie vorsichtig der damalige Wiedereinstieg in eine Erwerbsmigration nach Deutschland erfolgte.

Die Bedeutung der Einwanderung für den deutschen Arbeitsmarkt ist seitdem fester Bestandteil der Demographiepolitik und aller folgenden politischen Reformen. Das Zuwanderungsgesetz im Jahr 2005 regelte erstmals umfassender, dass ausländische Arbeitskräfte gemäß den wirtschaftlichen Erfordernissen nach Deutschland einwandern könnten. Seitdem kommt es im Rhythmus von zwei bis drei Jahren zu schrittweisen Liberalisierungen der Arbeitsmigration.

Schon im Jahr 2013 wurde Deutschland durch die OECD bescheinigt, eine der liberalsten Einwanderungspolitiken für Hochqualifizierte etabliert zu haben. Seitdem wurden auch die Rahmenbedingungen für den Zuzug von nicht akademischen Fachkräften vereinfacht.

Das Einwanderungsland Deutschland hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten ein differenziertes Regelwerk zur Steuerung des Zuzugs von Fachkräften entwickelt. Auch der aktuelle Gesetzesentwurf zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung wird vermutlich nicht der letzte bleiben. Schon jetzt und damit noch vor seiner Verabschiedung im Bundestag liegen weitergehende Vorschläge zur Entbürokratisierung und Vereinfachung des bisherigen Systems vor.

Solche Gesetzesinitiativen sind notwendig, denn die Rahmenbedingungen für den Zuzug internationaler Arbeitskräfte werden in den kommenden Jahren nicht einfacher. In den vergangenen zwei Jahrzehnten waren die unmittelbaren Nachbarstaaten in der Europäischen Union die wichtigsten Herkunftsländer. Die Erweiterungsrunden der EU und die Auswirkungen der Finanz- und Eurokrise sorgten dafür, dass der Anteil an Migranten aus der EU nach Deutschland von 42 Prozent in den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende auf mehr als 65 Prozent im Jahr 2012 gestiegen ist – um in den folgenden Jahren wieder abzunehmen.

Die niedrigen Geburtenraten sowie die erhöhte Nachfrage nach Arbeitskräften in den mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten lassen erwarten, dass die Arbeitsmigration aus dieser Region nach Deutschland künftig eher zurückgeht. Also müssen Drittstaaten an Bedeutung gewinnen, wenn Einwanderung einen substanziellen Beitrag zur Bewältigung des demographischen Wandels leisten soll. Drei Aspekte sind von Bedeutung, wenn Deutschland im internationalen Wettbewerb um reguläre Einwanderer attraktiv und konkurrenzfähig bleiben will.

Vorteile im internationalen Wettbewerb identifizieren

In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich Deutschland als Einwanderungsland neu erfunden, die Zahl zuziehender Fachkräfte steigt von Jahr zu Jahr. Allerdings steht Deutschland mit seiner demographischen Entwicklung und Nachfrage nach Migranten nicht alleine da. Wenn die Zahl der Zuzüge weiter steigen soll, müssen Menschen überzeugt werden, die im Hinblick auf ein mögliches Zielland unentschieden sind: Warum soll ich nach Berlin, Frankfurt oder Dresden ziehen, wenn ich auch in Paris oder Toronto leben könnte? Das „Rennen um Talente“ beschreibt eindrücklich, dass die nationalen Einwanderungspolitiken immer im unmittelbaren Wettbewerb mit denen anderer potenzieller Zielstaaten stehen. Wenn Menschen zu einem Zuzug nach Deutschland bewegt werden sollen, sind in diesem Wettbewerb die spezifischen Regelungen, Einkommensgrenzen und Sprachkenntnisse nur die eine Seite der Einwanderungspolitik. Genauso wichtig sind die Verständlichkeit und Nutzerfreundlichkeit eines solchen Systems. Die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung in Deutschland sollte hier in den kommenden Jahren genutzt werden, um auch für Bewerber, die mit dem deutschen Verwaltungswesen nicht vertraut sind, eingängige Verfahren anbieten zu können. Mit der Digitalisierung sollten Bearbeitungszeiten reduziert werden und die Antragsteller den Stand der Bearbeitung jederzeit einsehen können.

Auch nach der Ankunft in Deutschland sind die Einwanderer mit mühsamen Verwaltungsprozessen konfrontiert. Dass die Ausländerbehörden in vielen Regionen mittlerweile als „Welcome Center“ firmieren, entspricht nicht immer der Realität. Wartezeiten für persönliche Termine sollten reduziert beziehungsweise Behördengänge durch die Digitalisierung vermieden werden. Der Mangel an Fachkräften insbesondere auf den kommunalen Ebenen der öffentlichen Verwaltung macht die Modernisierung in der Praxis nicht einfacher.

Mehr Personen mit eigener Einwanderungserfahrung für die Verwaltung zu gewinnen, wäre ein Weg, um dem gravierenden Mangel an Mitarbeitenden entgegenzuwirken. Eine eigene Einwanderungserfahrung würde den Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung auch dabei helfen, Dienstleistungen kundenzentriert zu erbringen und heutigen Neuzuwanderern gegenüber Verständnis zu zeigen.

Für potenzielle Einwanderer muss aber auch das Gesamtpaket langfristig stimmen. Dies betrifft Regelungen für die Einwanderung von Familienangehörigen und auch die Schnittstellen mit anderen gesellschaftlichen Bereichen. Neben Offenheit in Unternehmen und Verwaltungen gegenüber Neuzugewanderten betrifft dies nicht zuletzt auch die Offenheit des Bildungs- und Betreuungssystems für deren Kinder.

Die geringen Erwerbsquoten von neuzugezogenen Frauen spiegeln nicht unbedingt ihr familiäres Rollenbild. Sie sind auch eine Konsequenz dessen, dass jüngst zugezogene Familien es schwer haben, adäquate Bildung und Betreuung für ihre jungen Kinder zu finden. Eine höhere Beteiligung der neuzugewanderten Kinder in ganztagsschulischen Einrichtungen und Kitas würde nicht nur helfen, späteren Benachteiligungen im Bildungssystem vorzubeugen, sondern würde auch die Erwerbsbeteiligung von Migrantinnen erhöhen.

Krisen als Chance im Zuwanderungsgeschehen begreifen

Das bestehende Regelwerk zur Steuerung der Erwerbsmigration nach Deutschland orientiert sich an den Erfordernissen des nationalen Arbeitsmarktes. Die Definition von Einkommensgrenzen, die Orientierung an Mangelberufen und die Festlegung spezifischer Herkunftsländer und Migrationskontingente folgen ökonomischen Interessen.

Internationale Wanderungsprozesse sind aber auch immer wieder Folge unvorhergesehener Entwicklungen. Diese Erfahrungen haben alle großen Einwanderungsländer in ihrer Geschichte gemacht. Das gilt auch für Deutschland: der Zuzug von (Spät-)Aussiedlern im Zuge des Zusammenbruchs des Ostblocks, der Zuzug aus Süd- und Osteuropa infolge der Finanz- und Eurokrise, die Kriege im ehemaligen Jugoslawien, in Syrien und Afghanistan sowie zuletzt der Zuzug von mehr als einer Million Menschen aus der Ukraine haben ganz wesentlich die Einwanderung beeinflusst.

Die Einwanderung infolge wirtschaftlicher, politischer und zukünftig auch klimabedingter Krisen erfolgt in der Regel nicht über geordnete und streng gesteuerte Kanäle der Erwerbsmigration. Dennoch hat Deutschland in der Vergangenheit auch meist von krisenbedingter Migration profitiert. Vieles spricht dafür, dass unvorhergesehene Entwicklungen auch in Zukunft die Einwanderung nach Deutschland mitbestimmen werden. Hier braucht es ebenfalls flexible Rahmenbedingungen, um diesen Menschen eine Zuflucht zu gewähren sowie sie in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Die Reaktion der Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine kann hier ein Vorbild für den Umgang mit zukünftigen Krisen sein. Mit der erstmaligen Aktivierung der europäischen „Richtlinie zum vorübergehenden Schutz“ wenige Tage nach Beginn des Krieges erhielten die Ukrainer durch die Erteilung befristeter Aufenthaltserlaubnis für zumindest zwei Jahre schnelle Rechts- und Planungssicherheit. Zusätzlich wurden sofort Möglichkeiten für eine Erwerbstätigkeit in Deutschland, die Förderangebote der Jobcenter und Zugang zu Integrationskursen und anderen Sprachprogrammen geschaffen.

Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) führt bereits seit Sommer 2022 mit weiteren wissenschaftlichen Partnern eine mehrfache Befragung von mehr als 11.000 Menschen durch, die aus der Ukraine geflohen sind. Bei allen verbleibenden Herausforderungen stellen die bisherige Teilhabe der Ukrainer auf dem Arbeitsmarkt, die hohe Zahl besuchter Sprachkurse sowie die Integration der Kinder in Kitas und das Schulsystem ermutigende Befunde dar für das Ankommen dieser in erster Linie Schutz suchenden Menschen.

Mit großer Wahrscheinlichkeit wird die Ukraine auch in Zukunft ein wichtiges Herkunftsland von Einwanderern nach Deutschland sein. Ein Großteil der aus der Ukraine geflohenen Menschen lebt mittlerweile seit mehr als einem Jahr in Deutschland. Die dabei entstandenen Kontakte, die neuen Sprachkenntnisse und das erlangte Wissen über Deutschland werden dazu führen, dass es auch nach einem Ende des Krieges zu einem regen Migrationsgeschehen zwischen beiden Ländern kommen wird. Länder in der Nachbarschaft der EU können eine wichtige Quelle für Einwanderung nach Deutschland darstellen. Das gilt für die Ukraine und weitere Staaten der ehemaligen Sowjetunion, aber auch für nordafrikanische und asiatische Länder.

Langfristige Lebensperspektiven in Deutschland ermöglichen

Entscheidungen für einen Umzug in ein anderes Land erfolgen häufig nur vorübergehend und auf wenige Jahre befristet. Für viele Menschen stehen bessere berufliche Karriereoptionen, ein höherer Lebensstandard, ein Auslandsstudium oder auch das Sammeln neuer Erfahrungen am Anfang ihrer Überlegungen für einen Aufenthalt im Ausland. In den vergangenen Jahren wurden am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) die Erfahrungen von Deutschen im Ausland untersucht.

Vor kurzem ins Ausland verzogene Deutsche sind nicht nur zumeist jung – die Hälfte von ihnen ist höchstens 32 Jahre alt –, sondern auch überdurchschnittlich hoch qualifiziert. Beinahe drei Viertel der ins Ausland verziehenden Deutschen haben eine Hochschulausbildung absolviert. Nur etwa jede fünfte Person verlässt Deutschland mit der Absicht, auf Dauer auszuwandern. Umgekehrt kehren etwa zwei Drittel der im Ausland lebenden Deutschen innerhalb der ersten fünf Jahre wieder zurück. Unter diesen international mobilen Deutschen haben diejenigen mit den höchsten Qualifikationen die geringste Absicht, dauerhaft im Ausland zu leben.

Nach Deutschland einwandernde Menschen mit einer europäischen oder außereuropäischen Staatsangehörigkeit verhalten sich ganz ähnlich wie die im Ausland lebende deutsche Bevölkerung. Es sind meist junge Menschen, die sowohl im Vergleich zur Bevölkerung in ihrem Herkunftsland als auch der Bevölkerung in Deutschland überdurchschnittlich hoch qualifiziert sind. Und auch für sie gilt, dass die meisten nur wenige Jahre in Deutschland bleiben wollen.

Mit steigendem Zuzug steigt für gewöhnlich auch die Zahl der Fortzüge – die Nettozuwanderung steigt daher meist nur langsam an. Für die erforderliche Nettozuwanderung von durchschnittlich 400.000 Personen, die langfristig das Erwerbspersonenpotenzial weitgehend konstant halten würde, muss daher die Zahl der Einwanderer deutlich steigen.

Menschen, die mit einer dauerhaften Bleibeabsicht nach Deutschland kommen, sollte eine dauerhafte Bleibeperspektive geboten werden. Die aktuell geplanten Vereinfachungen für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit sind ein wichtiges Signal. Sie ermöglichen nicht nur Menschen mit Einwanderungsgeschichte, die schon sehr lange in Deutschland leben, eine gleichberechtigte demokratische Teilhabe und Mitbestimmung. Vielmehr sind die geplanten Vereinfachungen auch ein Versprechen an Einwanderer, dass sie in Deutschland willkommen sind. Die Zulassung der doppelten Staatsangehörigkeit in Deutschland, wie es in vielen anderen Einwanderungsländern praktiziert wird, kann es Menschen mit Migrationshintergrund erleichtern, auch mehrere Identitäten auszuleben.

Eine schnellere Einbürgerung – zukünftig in der Regel nach fünf Jahren – zeigt einen sicheren Weg, um in Deutschland langfristig Fuß zu fassen und individuelle Lebensziele hier verwirklichen zu können. Nur so kann eine am demographischen Wandel und den Erfordernissen des deutschen Arbeitsmarktes orientierte Einwanderungspolitik langfristig gelingen. Die Erfahrungen mit der Einwanderung in den vergangenen Jahrzehnten haben gezeigt, dass der demographische Wandel gestaltbar ist.

Wenn wir Menschen attraktive Perspektiven bieten, um ihre individuellen Lebensziele dauerhaft hier zu verwirklichen, wird die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland auch zukünftig von internationaler Migration profitieren.

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Inhalt des Dossiers

  1. 1. Der demographische Wandel betrifft jeden
  2. 2. Kriegen die Deutschen bald weniger Kinder?
  3. 3. Kinderwunsch und Wirklichkeit
  4. 4. In der Warteschleife
  5. 5. Wie lassen sich die Bildungspotentiale ausschöpfen?
  6. 6. Einwanderung im internationalen Wettbewerb gestalten
  7. 7. Stadt, Land, Dazwischen
  8. 8. Pendeln für die Arbeit, ja oder nein?
  9. 9. Alterung: Fluch oder Segen?
  10. 10. Niedrige Lebenserwartung in Deutschland – ein Warnsignal
  11. 11. Was wir über die globale Bevölkerungsentwicklung wissen
  12. 12. Gut leben in Deutschland
  13. Impressum

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