3. Kinderwunsch und Wirklichkeit
Von Jasmin Passet-Wittig und Hannah Zagel
Veröffentlicht bei FAZ.NET am 30.05.2023
Nach dem Scheitern einer Studie der WHO über eine Antibaby-Spritze für Männer: Spermiogramm im Zentrum für Reproduktionsmedizin und Andrologie des Universitätsklinikums Halle.
Viele Menschen bleiben heute lange kinderlos und befassen sich erst spät im Lebensverlauf mit der Frage, ob sie noch Eltern werden wollen oder nicht. Es mag daher überraschen, dass die Idealvorstellung nach wie vor die einer Familie mit zwei Kindern ist. Tatsächlich haben Frauen des Geburtsjahrgangs 1973 im Durchschnitt 1,56 Kinder und damit deutlich weniger als die im Mittel gewünschten zwei Kinder.
Frauen der Geburtsjahrgänge 1969 bis 1973 sind zu 21 Prozent kinderlos geblieben, was bedeutet, dass jede fünfte Frau dieser Gruppe keine Kinder bekommen hat. Unter Akademikerinnen ist sogar jede vierte Frau kinderlos geblieben, obwohl sie sich häufig drei oder mehr Kinder gewünscht haben. Zum Vergleich: Bei den um die Mitte der 1940er Jahre geborenen Frauen blieb nur etwa jede achte Frau kinderlos.
Was ist der Grund für diese Lücke zwischen Kinderwunsch und Wirklichkeit? Wichtig ist zunächst: Fragen zum Kinderwunsch werden in sozialwissenschaftlichen Befragungen, zum Beispiel per Telefon oder online, gestellt. Bei den Antworten auf die Frage nach der Zahl der gewünschten Kinder handelt es sich immer um eine Momentaufnahme.
Dr. Jasmin Passet-Wittig leitet das Projekt zu Infertilität und Reproduktionsmedizin am BiB.
Quelle: © Peter-Paul Weiler
Wie Studien zu Kinderwünschen im Lebensverlauf zeigen, verändern sich die Idealvorstellungen abhängig von der aktuellen beruflichen und privaten Lebenssituation, dem Gesundheitszustand oder auch dem persönlichen Wohlbefinden. Die Formulierung der Frage nach dem Kinderwunsch hat ebenfalls einen Einfluss auf die Antworten.
Wie groß die tatsächliche Lücke ist, lässt sich also nicht mathematisch exakt bestimmen. Trotzdem können wir Aussagen über mögliche Ursachen treffen: Möglicherweise fehlt der passende Partner oder die berufliche Situation ist schwierig, so dass die Erfüllung des Kinderwunschs zurückgestellt wird.
Ein weiterer wichtiger Grund für die Lücke zwischen Kinderwunsch und Wirklichkeit besteht im Auftreten von Fertilitätsproblemen. Davon spricht man, wenn bei heterosexuellen Paaren über den Zeitraum eines Jahres trotz regelmäßigen Geschlechtsverkehrs ohne Verhütung keine Schwangerschaft eintritt. Diese Diagnose betrifft nicht nur Kinderlose, sondern auch Personen oder Paare, die bereits Kinder haben. Diese Gruppe ist jedoch deutlich weniger sichtbar, weil sie bereits Kinder hat.
Für Paare, die sich ein Kind oder Geschwisterkinder wünschen, stellt das Ausbleiben einer gewünschten Schwangerschaft eine große Belastung dar. Schließlich geht es hier um das Lebensziel der Elternschaft – ein hochemotionales und stark von sozialen Normen geprägtes Thema. Kinderwunsch und Elternschaft sind immer auch mit wahrgenommenen gesellschaftlichen Erwartungen verbunden.
Untersuchungen zu gesellschaftlichen Vorstellungen von Familie aus dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) zeigen, dass für viele junge Erwachsene Familie da ist, wo Kinder sind, trotz der gestiegenen gesellschaftlichen Akzeptanz unterschiedlicher Lebensmodelle auch ohne Kinder. Fragen nach dem „Wann ist es bei euch soweit?“ oder „Wollt ihr keine Kinder?!“ empfinden kinderlose Paare mit unerfüllten Kinderwünschen als besonders unangenehm. Solche Fragen transportieren die gesellschaftlichen Erwartungen und können die psychische Belastung der Betroffenen noch erhöhen.
Kinderwunschbehandlung oder nicht?
Das Risiko von Fertilitätsproblemen nimmt aus biologischen Gründen mit dem Alter zu. Zwar treten Fertilitätsprobleme aufgrund des Alters häufiger bei Frauen auf, aber auch bei Männern steigt altersbedingt das Risiko. Weil aber die Verwirklichung des Kinderwunsches nicht nur in Deutschland, sondern in Europa insgesamt immer öfter aufgeschoben wird, kommen immer mehr Menschen in die Situation, dass ihr Kinderwunsch nicht in Erfüllung geht.
Immer mehr entscheiden sich in dieser Situation dazu, medizinische Hilfe zu suchen und wenden sich an ein sogenanntes Kinderwunschzentrum. Zu den am häufigsten verwendeten Verfahren der dort praktizierten Reproduktionsmedizin zählt die In-Vitro-Fertilisation (IVF). Bei dieser Methode werden der Frau Eizellen entnommen, im Reagenzglas mit Samenzellen des Partners oder eines Spenders befruchtet und dann in die Gebärmutter übertragen. Die Intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) ist eine Variante der IVF, bei der eine einzelne männliche Samenzelle direkt in die Eizelle eingeführt wird.
Die Nachfrage nach Behandlungen wegen Fertilitätsproblemen spiegelt sich nicht eins zu eins in den Behandlungszahlen wider. Die Motive, die einer Entscheidung für oder gegen eine Kinderwunschbehandlung zugrunde liegen, sind vielfältig. Ein wichtiger Faktor sind dabei die Behandlungskosten. Eine einzelne IVF-Behandlung kann mit hohen Kosten von mehreren tausend Euro verbunden sein.
In der Regel werden sie von den gesetzlichen Krankenkassen nur zur Hälfte übernommen, und dies für höchstens drei Versuche. Darüber hinaus ist die Kostenübernahme in der gesetzlichen Krankenkasse an weitere Kriterien geknüpft: Wer nicht verheiratet ist oder in einer weiblich-gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lebt, muss die Kosten überwiegend komplett selbst tragen. Nicht jeder kann sich also die Kinderwunschbehandlung leisten, insbesondere dann nicht, wenn aufgrund der relativ geringen Erfolgsaussichten mehrere Behandlungen erforderlich sind.
Auch der antizipierte und tatsächliche Zeitaufwand spielen bei der Entscheidung für oder gegen eine Behandlung im Kinderwunschzentrum eine Rolle. Ein Behandlungszyklus umfasst meist mehrere Arztbesuche, die mit den eigenen Arbeitszeiten kollidieren können. Neben den körperlichen Belastungen durch die Behandlungen und dem Bangen um deren Erfolg stellt dies eine zusätzliche Last dar.
Weitere Hürden für eine reproduktionsmedizinische Behandlung bei Menschen mit Kinderwunsch sind Sprachbarrieren, fehlendes Wissen, Scham oder ethische Bedenken, etwa bezüglich der Zeugung von Leben außerhalb des Körpers oder der Verwendung von gespendeten Keimzellen. Religiöse Überzeugungen können sowohl in die eine als auch in die andere Richtung wirken. Wie eine aktuelle Überblicksarbeit aus dem BiB zeigt, beziehen sich vorliegende Studien zu den Hürden für die Nutzung der Reproduktionsmedizin stark auf den englischsprachigen Raum. Für Deutschland liegen nur wenige Studien vor, die auch zusammengenommen nicht so aussagekräftig sind, wie sie es angesichts dieser Problemlage sein sollten.
Im europäischen Vergleich im Mittelfeld
Im Jahr 2020 wurden in Deutschland mehr als 113.000 Behandlungen mit IVF und den damit verbundenen Verfahren durchgeführt. Infolge künstlicher Befruchtung kamen etwa 22 200 Kinder zur Welt, was einem Anteil von ungefähr 2,9 Prozent aller Geburten entspricht. Im Vergleich zum Jahr 2010 ist das ein Anstieg um einen Prozentpunkt. Diese Quote ist nicht gering, aber im europäischen Vergleich eher im Mittelfeld.
Dr. Hannah Zagel leitet die Forschungsgruppe zur Regulierung von Reproduktion im Ländervergleich am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).
Quelle: © Anna E. Kluge
In den Nachbarländern Dänemark (5,7 Prozent) und Österreich (6,3 Prozent) wurde 2020 ein wesentlich höherer Anteil aller Kinder nach Kinderwunschbehandlungen geboren. Das untere Ende der Skala bilden Irland mit einem Anteil von 0,9 oder Polen mit 1,6 Prozent. Es ist damit zu rechnen, dass die Anzahl der Kinder, die mittels assistierter Reproduktion gezeugt werden, in Deutschland weiter steigen wird.
Wie lassen sich die Unterschiede in der Nutzung von reproduktionsmedizinischen Behandlungen im europäischen Vergleich erklären? Eine wichtige Rolle spielen die von Land zu Land unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen der Reproduktionspolitik: Über Gesetze und andere Regelwerke nimmt der Staat Einfluss auf das Ob, Wann und Wie des (Nicht-)Kinderkriegens. Mit diesen Reproduktionspolitiken befasst sich ein aktuelles Projekt am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).
Eine Palette staatlicher Maßnahmen wie die Regulierung von Sexualerziehung, von Verhütungsmitteln, von Schwangerschaftsabbrüchen, von Reproduktionsmedizin und Schwangerschaftsfürsorge bestimmt, wie selbstbestimmt Menschen ihre reproduktiven Wünsche verwirklichen oder sich aus schwierigen Situationen wie ungewollten Schwangerschaften befreien können. Im Fall der Reproduktionsmedizin bestimmt der Staat, welche Verfahren zulässig sind, wer diese nutzen darf und in welchem Umfang die Kosten der Behandlungen übernommen werden.
Die Ausgestaltung der Regeln in einem Land unterliegt gesellschaftlichen und politischen Aushandlungsprozessen. Von einer freizügigen Regulierung spricht man, wenn sie den Ärztinnen und Ärzten große Autonomie bei der Anwendung unterschiedlicher Verfahren einräumt, wenn die Hürden für den Zugang zur Reproduktionsmedizin niedrig sind und Kosten umfänglich übernommen werden.
In der Regulierung der Reproduktionsmedizin lassen sich gesellschaftliche und politische Vorstellungen darüber erkennen, wessen Fortpflanzung erwünscht ist. Wenn – wie in Griechenland, Polen und Ungarn – der Zugang zu Kinderwunschbehandlungen nur verheirateten, verschiedengeschlechtlichen Paaren vorbehalten ist, kann dies als Hinweis auf traditionelle Vorstellungen von Familie gelten.
Ein anderes Beispiel sind die Altersbeschränkungen der Krankenkassenzuschüsse für Kinderwunschbehandlungen. In Deutschland liegen die Grenzen bei 40 Jahren für Frauen und 50 Jahren bei Männern. Diese Regelungen reflektieren womöglich eher Elternschaftsnormen als medizinische Gründe. Beispiele für Länder mit großzügigeren Altersgrenzen für Zuschüsse von Krankenkassen zu reproduktionsmedizinischen Behandlungen bei Frauen sind Belgien und die Niederlande mit bis zu 43 Jahren sowie Norwegen. Dort können Frauen sogar bis zum Alter von 46 Jahren Zuschüsse erhalten.
Neue Methoden, höhere Nachfrage
Immer mehr Länder haben in den vergangenen Jahrzehnten neue Gesetze verabschiedet oder bestehende reformiert. Sie reagierten damit auf die rasche Entwicklung neuer Methoden einerseits und die erhöhte Nachfrage andererseits. So wurde beispielsweise das Fortpflanzungsmedizingesetz in Österreich 2015 als Reaktion auf ein Urteil des Verfassungsgerichts liberalisiert. In manchen Ländern steht die Regulierung noch aus, unter anderem in Deutschland.
Hier stellt das Embryonenschutzgesetz von 1990 nach wie vor den rechtlichen Rahmen, obwohl es nach überwiegender Ansicht aufgrund einer zu rigiden Begriffsbestimmung dessen, was ein Embryo ist, novelliert werden sollte. Das Embryonenschutzgesetz ist insofern bedeutsam, als es in Deutschland kein anderes, eigenes Gesetz gibt, das die Reproduktionsmedizin reguliert.
Viele gesellschaftliche Akteurinnen und Akteure vertreten die Auffassung, dass die Gesetzeslage an die heutigen medizinischen Möglichkeiten sowie die geänderten Vorstellungen von Familie und Elternschaft angepasst werden muss. So befasst sich die im März 2023 von der Bundesregierung eingesetzte Kommission zu Fragen der reproduktiven Selbstbestimmung unter anderem mit der Spende von Eizellen sowie der sogenannten altruistischen Leihmutterschaft.
Aus demographischer Sicht lässt sich festhalten, dass die Reproduktionsmedizin einen zwar überschaubaren, aber tendenziell steigenden Einfluss auf die Geburtenentwicklung hat. Zu beachten sind jedoch auch die Grenzen der medizinisch assistierten Reproduktion. Neben den hohen Behandlungskosten sowie den körperlichen und psychischen Belastungen durch die Behandlung fallen die begrenzten und mit dem Alter der Patienten sinkenden Erfolgsaussichten ins Gewicht. Nach drei Versuchen bleiben etwa 50 Prozent der Wunscheltern ohne Kind.
Viele Betroffene müssen die reproduktionsmedizinische Behandlung demnach beenden, ohne dass ihr Wunsch nach einem Kind in Erfüllung gegangen ist. Eine signifikante Steigerung der Zahl der Geburten mittels Reproduktionsmedizin erscheint vor diesem Hintergrund nicht als realistisch. Aufgrund der angesprochenen Belastungen der Frauen, die mit den reproduktionsmedizinischen Verfahren verbunden sind, ist eine Steigerung auch nicht erstrebenswert.
Der Handlungsbedarf für den Staat bleibt dennoch bestehen: Um mit den gesellschaftlichen und medizinischen Entwicklungen Schritt zu halten, ist es dringend notwendig, Aushandlungsprozesse über neue Regeln für die Reproduktionsmedizin zuzulassen und zu fördern.
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