Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung

Demographischer Wandel: Weiter und anders diskutiert...

In 12 Essays von Beschäftigten des BiB gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen anderer Forschungseinrichtungen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und in der FAZ von Mai bis August 2023 veröffentlicht.

2. Kriegen die Deutschen bald weniger Kinder?

Von Martin Bujard und Michaela Kreyenfeld

Veröffentlicht bei FAZ.NET am 22.05.2023

In Deutschland werden wieder mehr Kinder geboren: Seit wenigen Jahren liegt die Geburtenziffer hierzulande mit 1,5 Kindern pro Frau im europäischen Mittelfeld. Aber die vielen Krisen werden wohl bald ihre Spuren hinterlassen.

Die Zahl 2,1 ist eine wichtige Größe in der demographischen Forschung, denn sie gibt das sogenannte Bestandserhaltungsniveau an. Fällt die Geburtenrate dauerhaft unter diesen Wert, fällt die Bevölkerungszahl ohne Zuzug aus dem Ausland über kurz oder lang zurück. Die nordischen Länder, allen voran Schweden, galten lange Zeit als Vorbild für eine fortschrittliche Familienpolitik. Die Geburtenrate lag in der Nähe des Bestandserhaltungsniveaus, gleichzeitig punkteten diese Länder mit Geschlechtergerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt.

Die Geburtenziffer in der Bundesrepublik oszillierte hingegen seit den 1970er Jahren um einen Wert von nur 1,3 bis 1,4. Westdeutschland bildete regelmäßig das Schlusslicht der europäischen Verteilung. In der DDR erlebte die Fertilität in den 1970er-Jahren ein kurzfristiges Hoch. Jedoch brach die ostdeutsche Geburtenziffer nach der Wiedervereinigung drastisch ein. Seit 2005 liegen die jährlichen Raten in Ost und West auf einem ähnlichen Niveau.

Die Trendwende hat Gründe

In den vergangenen Jahren hat sich die fixe europäische Rangordnung verschoben. Deutschland hat sich mit einer Geburtenrate von 1,5 bis 1,6 in das europäische Mittelfeld vorgeschoben, während die südeuropäischen Länder, vor allem Spanien, Italien und Portugal, mit einem Wert von 1,2 Kindern pro Frau die neuen Schlusslichter in Europa bilden. Weltweit ist es derzeit Südkorea, das mit Werten von unter einem Kind pro Frau neue Negativrekorde bricht.

Während Anfang der 2000er Jahre noch deutsche Delegationen Schweden bereisten, geben sich in Deutschland mittlerweile südkoreanische Delegationen die Klinke in die Hand, um von der Bundesrepublik zu lernen. Die Gründe für die Trendwende hierzulande scheinen auf der Hand zu liegen. Schon 2004, während der rot-grünen Regierung Schröder/Fischer wurde durch das Tagesbetreuungsausbaugesetz der Ausbau der Kindertagesstätten forciert. Dieses Projekt wurde während der großen Koalition unter Angela Merkel fortgeführt. Mit dem Kinderförderungsgesetz des Jahres 2008 wurde der Rechtsanspruch für einen Betreuungsplatz für Ein- und Zweijährige ab 2013 eingeführt. In Westdeutschland lag die Betreuungsquote für unter Dreijährige noch 2007 unter zehn Prozent, inzwischen sind es mehr als 35 Prozent. Im internationalen Vergleich kam diese Entwicklung spät, aber mit einem hohen Tempo.

Darüber hinaus wurde 2007, vor allem dank der Vorarbeiten der damaligen Bundesfamilienministerin Renate Schmidt (SPD) und der Durchsetzungskraft ihrer Nachfolgerin Ursula von der Leyen (CDU), das einkommensabhängige Elterngeld eingeführt. Dieser politische Schritt setzte mit den sogenannten „Vätermonaten“ nicht nur ökonomische Anreize für Väter, Elternzeit zu nehmen, sondern hatte auch Signalwirkung für die Dauer der Erwerbsunterbrechung von Müttern. Nach der Geburt eines Kindes galt fortan nicht mehr das „Drei-Phasen-Modell“, das nach jeder Geburt eine Auszeit von mindestens drei Jahren vorsah, sondern es forcierte die Norm einer einjährigen Pause für Mütter. Die Forschung war sich damals einig: Deutschland hatte den „Nordic Turn“ eingeschlagen. Anstatt an der Oberfläche zu kratzen, wurden durchgreifende familienpolitische Reformen auf den Weg gebracht, die sich unverblümt am schwedischen Vorbild orientierten.

In der Rückschau stimmten nicht nur Wucht und Richtung, sondern auch der Zeitverlauf. Die gewaltigen und gleichzeitig kostspieligen Reformen waren zu einem Zeitpunkt eingefädelt worden, als an eine globale Finanz- oder Coronakrise nicht zu denken war. Anders in Spanien, Portugal oder Italien: Hier mangelte es zwar nicht an Erkenntnis, sondern an Handlungswillen.

Auch wenn Niedrigfertilität in Südeuropa nicht die gleiche lange Tradition hatte wie in Deutschland, lagen die demographischen Fakten schon länger auf dem Tisch: Die Kinderlosigkeit nahm rapide zu, desgleichen die Ein-Kind-Familie, und das gepaart mit einem kontinuierlichen Rückgang der sogenannten Gesamtfertilität, also der Anzahl der Kinder über die gesamte Lebenszeit. Nachdem die globale Finanz- und Wirtschaftskrise und später die Coronakrise die Länder durchgeschüttelt hatten, fehlte es schlichtweg an Mitteln, um die Familienpolitik auf den „nordischen Kurs“ zu bringen.

Kostspielige familienpolitische Maßnahmen wie das einkommensabhängige Elterngeld dürften angesichts der Staatsverschuldung in Südeuropa derzeit undenkbar sein. Doch auch andere Gründe erschweren die Gründung einer Familie. Wohnraum ist knapp, die Jugendarbeitslosigkeit hoch und der Arbeitsmarkt hat für die junge Generation zumeist befristete und schlecht bezahlte Stellen übrig.

Die nordische Kehrtwende

Die Freude darüber, dass Deutschland rechtzeitig auf nordischen Kurs gesetzt hat und nunmehr an Italien und Spanien vorbeigezogen ist, sollte jedoch nicht überborden. Deutschland ist nicht nur deswegen mit Schweden fast gleichauf, weil die deutsche Geburtenrate nach oben geklettert ist, sondern auch, weil die nordischen Geburtenraten in den vergangenen Jahren erstaunlicherweise gesunken sind. Mit einer Rate von nur 1,67 liegt Schweden im Jahr 2021 nur noch einen Steinwurf von der deutschen Geburtenrate entfernt. Für Deutschland liegen noch keine amtlichen Zahlen für 2022 vor, aber die jüngsten Zahlen für Schweden zeigen an, dass die Geburtenziffer mit 1,52 ein historisches Tief erreicht hat.

Wenn man sich an die Debatten vor Einführung des Elterngeldes zurückerinnert, so waren die hohen Geburtenraten in den nordischen Ländern ein wesentliches Argument für die Einführung des Elterngeldes. Heute ließe sich diese Karte nicht mehr so einfach spielen. Dabei wäre der Vorwurf, dass die nordische Politik ineffektiv sei, vermutlich ungerechtfertigt: Zum einen scheint die „nordische Kehrtwende“ durchaus vielfältige Früchte in Deutschland getragen zu haben. Eine Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) hat Effekte des Elterngeldes nur für Akademikerinnen im Alter von 35 bis 44 Jahren nachgewiesen. Die Kinderlosigkeit bei Akademikerinnen lag bei knapp 30 Prozent und ist seit mehreren Jahren rückläufig. Zuletzt lag sie bei 26 Prozent. Die Erwerbstätigenquote der Mütter liegt in Deutschland mittlerweile deutlich über dem EU-Schnitt, der Anteil der Väter in Elternzeit wächst kontinuierlich.

Zum anderen ist zu bedenken, dass die jährliche Geburtenziffer eine trügerische Maßzahl sei. Geburtenentscheidungen sind letztendlich Lebenslaufentscheidungen. D. h., das Kind, das ich in diesem Jahr nicht bekomme, kann ich im nächsten bekommen. Kommen viele Paare im gleichen Jahr auf den gleichen Gedanken, geht die jährliche Geburtenrate im Sturzflug nach unten. In Schweden können wir seit Jahrzehnten diese „RollerCoasterFertility“ beobachten, obwohl die „tatsächliche Kinderzahl“ (Kinderzahl gemessen über das ganze Leben von Frauen und Männern) bislang auf relativ konstantem, hohem Niveau von etwa zwei Kindern pro Frau verweilt. Hervorzuheben ist hier „bislang“, da wir das mit Sicherheit nur für die Jahrgänge, die bis 1975 geboren worden sind, sagen können.

Die Unsicherheit nimmt zu

Möglicherweise zeigt sich in Schweden bereits, was sich in Deutschland bislang nur andeutet: Ökonomie und Geburtenentwicklung sind heute stärker gekoppelt, als das in der Vergangenheit der Fall war. Zahlreiche Studien auf Basis schwedischer Registerdaten zeigen, dass Arbeitslosigkeit und niedriges Einkommen dazu führen, dass Entscheidungen für Kinder aufgeschoben werden. Für Deutschland waren bis vor kurzem die Muster nicht so klar. Ganz im Gegenteil: Für viele Frauen waren gerade Arbeitslosigkeit und eine ausweglose berufliche Perspektive der passende Moment, um mit der Mutterschaft zu beginnen, wohlwissend, dass nicht das eigene Einkommen, sondern das des (Ehe-)Partners die ökonomische Situation der Familie in Zukunft bestimmen würde. Mittlerweile zeigen auch die empirischen Studien für Deutschland in eine andere Richtung. Nicht nur für Männer, sondern auch für Frauen stellt die Etablierung im Arbeitsmarkt eine Grundvoraussetzung dar, um eine Familie zu gründen. Das Elterngeld, dessen Höhe an das vorherige Einkommen gekoppelt ist, verstärkt diesen Effekt.

Wirtschaftliche und soziale Verwerfungen schlagen sich damit unmittelbarer in den jährlichen Geburtenraten nieder. Zwar kann man auf der einen Seite vermuten, dass auf ein Geburtentief schnell ein Geburtenhoch folgen kann, wenn sich die ökonomische Situation wieder entspannt. Dennoch hinterlassen gesellschaftliche Krisen ihre Spuren in den jährlichen Geburtenraten. Neuere Forschungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) und der Universität Stockholm zeigen, dass die Coronakrise nicht nur mit erheblichen monatlichen Schwankungen verbunden ist, sondern in den jährlichen Geburtenraten in Deutschland wie auch Schweden Spuren hinterlassen wird. Die Möglichkeit, Geburten nachzuholen, setzt voraus, dass sich gesellschaftliche und ökonomische Bedingungen irgendwann bessern und sich Krisen nicht überlappen oder eine Krise der nächsten folgt.

Angesichts der multiplen Krisen wie Coronapandemie, Inflation und russischer Angriffskrieg in der Ukraine spricht vieles dafür, dass die Unsicherheit zunimmt und Paare die Familiengründung und -erweiterung eher noch weiter aufschieben bzw. unterlassen. Eine weitere Dimension stellt zudem die Klimakrise dar, die gerade in der jüngeren Generation die Frage (neu) entflammt hat, ob eine Elternschaft vor dem Hintergrund des Klimawandels überhaupt zu verantworten sei.

Es ist jedoch nicht nur der Blick auf die aktuelle jährliche Geburtenziffer, der die nordische Fassade bröckeln lässt. Folgt man den demographischen Beobachtern, ist auch die „Geschlechterrevolution“ auf halber Strecke versackt. Zwar haben Frauen gerade im Bildungssystem nachgezogen und sind formal ähnlich gut qualifiziert wie Männer. Aber an der Zuständigkeit für Sorgearbeit innerhalb der Familie ist nur gekratzt, aber nicht gerüttelt worden. Auch wenn man aus deutscher Perspektive, wo sich ein massiver Gender Pension Gap und Gender Pay Gap auftut, sicher nur das Recht hat, kleinlaut zu monieren, so stoßen Frauen auch in Schweden an die sprichwörtliche gläserne Decke. Sie verdienen weniger und sind seltener in Vollzeit erwerbstätig als ihre männlichen Gegenüber. Gleichheit sieht anders aus.

Anders als in Deutschland setzt man in Schweden jedoch voll auf das Prinzip der Eigenständigkeit. Witwen- und Witwerrenten sind praktisch abgeschafft worden. Rentenpunkte für Sorgeleistungen, die in Deutschland die Rente von Frauen mit Kindern aufbessern, spielen kaum eine Rolle. Auch der Versorgungsausgleich, der nach einer Scheidung die Rentenleistungen zwischen Ex-Mann und Ex-Frau kräftig umsortiert, ist den nordischen Nachbarn fremd. Es scheint gelegentlich, als wären die Stützpfeiler entfernt worden, ehe man die Revolution zum Ende gebracht hat. Was auf der einen Seite fortschrittlich ist und klare Anreize für ökonomische Eigenständigkeit setzt, lässt auf der anderen Seite – so könnte man argumentieren – jene im Regen stehen, bei denen eine ökonomische Eigenständigkeit dann doch nicht so gelingt oder die auf Grund von Sorgearbeit zurückgesteckt haben.

Migration als Ausweg?

Vor dem Hintergrund von Krisen, niedrigen Geburtenraten und Bevölkerungsalterung stellt sich generell die Frage, ob der Fokus stärker auf die Migration gerichtet werden muss. Deutlicher wird das in absoluten Zahlen: Während in den 1970er Jahren jährlich etwa sechs Millionen Kinder in den Ländern der heutigen EU (ohne Großbritannien) geboren wurden, sind es derzeit etwa vier Millionen. Gerade in Deutschland hat die Einwanderung dafür gesorgt, dass der seit langem vorhergesagte Rückgang der Bevölkerung sich bis heute noch nicht eingestellt hat. Die Nettozuwanderung lag, mit erheblichen jährlichen Schwankungen, seit der Wiedervereinigung bei etwa 300.000 Personen pro Jahr.

Es ist müßig, auch wenn dies immer wieder gerne am rechten populistischen Rand getan wird, Geburten und Zuwanderung gegeneinander auszuspielen. Fest steht jedoch, dass der derzeitige Fachkräftemangel nicht vom Himmel gefallen ist, sondern sich seit Jahrzehnten ankündigt hat. Klar ist auch, dass ein erheblicher Teil der qualifizierten Zuwanderung nach Deutschland aus Ländern wie Bulgarien, Polen und Rumänien stammt. Ohne sie würden unser Gesundheitssystem und die Pflege kaum noch funktionieren. Allerdings haben diese Länder selbst mit einer rapiden demographischen Alterung und, wie Bulgarien und Kroatien, mit einem massiven Bevölkerungsrückgang zu kämpfen. Gebraucht würde – so das Argument vieler – eine qualifizierte Migration aus so genannten Drittstaaten, also Ländern außerhalb der EU.

Personalmangel mag zudem die Ansätze einer fortschrittlichen Familienpolitik arg ins Stocken bringen. Wenn Kindertageseinrichtungen früher schließen müssen, da keine Erzieherinnen und Erzieher verfügbar sind und Arbeitgeberverbände kundtun, dass eine Arbeitszeitverkürzung auf Grund des Fachkräftemangels nicht machbar ist, dann hat das auch Rückwirkungen auf die Familienpolitik. Es schließt sich dann der Kreis. Versäumnisse der Vergangenheit blockieren den Weg in die Zukunft.

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Inhalt des Dossiers

  1. 1. Der demographische Wandel betrifft jeden
  2. 2. Kriegen die Deutschen bald weniger Kinder?
  3. 3. Kinderwunsch und Wirklichkeit
  4. 4. In der Warteschleife
  5. 5. Wie lassen sich die Bildungspotentiale ausschöpfen?
  6. 6. Einwanderung im internationalen Wettbewerb gestalten
  7. 7. Stadt, Land, Dazwischen
  8. 8. Pendeln für die Arbeit, ja oder nein?
  9. 9. Alterung: Fluch oder Segen?
  10. 10. Niedrige Lebenserwartung in Deutschland – ein Warnsignal
  11. 11. Was wir über die globale Bevölkerungsentwicklung wissen
  12. 12. Gut leben in Deutschland
  13. Impressum

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