Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung

Demographischer Wandel: Weiter und anders diskutiert...

In 12 Essays von Beschäftigten des BiB gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen anderer Forschungseinrichtungen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und in der FAZ von Mai bis August 2023 veröffentlicht.

12. Gut leben in Deutschland

Von Katja Patzwaldt, C. Katharina Spieß und Gert G. Wagner

Veröffentlicht in der FAZ am 14.08.2023

Die Beschreibung des wirtschaftlichen Wohlstands reicht nicht aus, um zu wissen, wie es der Bevölkerung geht und wo sie besondere Belastungen wahrnimmt. Es gilt, Wohlbefinden zu messen, auch, um bessere Demographiepolitik zu machen.

Geht es darum, Wohlstand zu erfassen und zu vergleichen, ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach wie vor der dominierende Maßstab. Erfasst werden dazu der Wert aller im Inland hergestellten Waren und Dienstleistungen. Freilich gehen in das Bruttoinlandsprodukt auch Elemente ein, welche die Lebensqualität einer Gesellschaft mindern können, etwa die Ausgaben für Zigarettenwerbung oder die Treibstoffkosten für das Pendeln zur Arbeit, das der Lebenszufriedenheit nicht unbedingt förderlich ist. Darüber hinaus sagt das Bruttoinlandsprodukt nichts über das Ausmaß von Armut oder Einkommensungleichheit, über den Stand der familiären Kinderbetreuung oder über ehrenamtliche Dienstleistungen aus.

Eine alleinige Betrachtung der Wirtschaftsleistung eines Landes reicht also nicht aus, um den Wohlstand oder die Lebensqualität in einer Gesellschaft zu messen. Denn es sind viele verschiedene Facetten, die den Wohlstand einer Gesellschaft ausmachen. Diese Erkenntnis ist nicht sonderlich originell. John Stuart Mill schrieb schon 1848 von der Bedeutung der Wohlstandsmessung jenseits wirtschaftlicher Maßzahlen: “When a country has reached a reasonable economic level, it is time to stabilise the economy and rather focus on quality of life.”

Auch der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ ist mittlerweile der Ansicht, dass das BIP um weitere Indikatoren ergänzt werden müsse. „Ganzheitliche Wohlfahrt“ soll der Maßstab sein, der auch die ökologische und soziale Nachhaltigkeit des Wirtschaftens statistisch abbilden kann. Darunter summieren die „Wirtschaftsweisen“ neben Einkommen auch Lebensqualität, Umweltbedingungen, Bildungsstand, politische Mitsprache und soziale Kontakte. All das gehört zu dem, was ein breiter Wohlstandsbegriff umfasst.

Allerdings ist es nicht einfach, diesen Begriff in statistische Messungen umzusetzen, die zudem so eingängig sind wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das aus nur einer Zahl besteht. Wissenschaft und zivilgesellschaftliche Akteure haben deswegen in den vergangenen Jahrzehnten versucht, diese Aufgabe mit unterschiedlichen Ansätzen zu lösen.

Eine Enquetekommission des Bundestags hat bereits vor zehn Jahren Indikatoren im Dreiklang des materiellen Wohlstands, sozialen Zusammenhalts und der Ökologie definiert, mit denen sich analog zu den Nachhaltigkeitszielen der UN die Entwicklung der Gesellschaft sinnvoll beobachten lässt. Dieses sogenannte „W3-Indikatoren“-Konzept ähnelt auch dem Better-Life-Index der OECD. Dieser erfasst elf Facetten der materiellen Lebensbedingungen, etwa die Wohnsituation, das subjektive Gefühl der Sicherheit oder die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Im Jahr 2016 entwickelte das Bundeskanzleramt unter Angela Merkel mit dem Indikatoren-Tableau „Gut leben in Deutschland“ ein weiteres Statistiksystem, um Politik besser an einem breiten Wohlstandsbegriff auszurichten. Der Bericht der damaligen Bundesregierung zur Lebensqualität beschreibt in zwölf Dimensionen mit 46 Indikatoren die Lebensqualität. Sie reichen von der Lebenserwartung bei Geburt über Vertrauen in die Polizei bis hin zur Energiequalität. Neben den Ergebnissen eines sechsmonatigen Bürgerdialogs hat die Bundesregierung damals Erkenntnisse der Forschung und den Bericht der Enquetekommission des Bundestages zu „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ berücksichtigt.

Die fast 50 Indikatoren haben allerdings keine klar erkennbare und erst recht keine messbare politische Wirkung entfaltet. Das liegt zum einen an der großen Zahl, zum anderen aber auch daran, dass sich die Politik nicht selbst verpflichtet hat, diese Indikatoren regelmäßig zu aktualisieren und auch politisch zur Diskussion zu stellen – ein Vorschlag, den die Enquetekommission des Bundestages für ihr eigenes Konzept gemacht hatte. Auch die 34 Indikatoren, die die Ampelregierung seit 2022 nachrichtlich in einem Sonderkapitel des Jahreswirtschaftsberichts darstellt, zeigen bisher kaum eine breite messbare Wirkung.

Wir gehen auf diesen zentralen Aspekt der Wirkung am Schluss dieses Beitrags noch einmal ein. Zunächst begründen wir unseren Vorschlag, die mit Bevölkerungsumfragen messbare Lebenszufriedenheit der Menschen als den zentralen Indikator zur Erfassung von Wohlstand zu nehmen. Dabei leitet uns die Überzeugung, dass der Indikator „Lebenszufriedenheit“ aufgrund seiner Einfachheit, analog dem BIP, die politische Diskussion – auch im Bereich der Demographiepolitik – zielgerichteter und wirksamer macht.

Traditionell nutzt die Forschung eine ganze Reihe von Indikatoren, um Bevölkerungsentwicklungen zu beschreiben, etwa die Geburtenrate, die Ein- und Auswanderungsströme, die Lebenserwartung und auch das Bildungsniveau. Sie spiegeln zu einem gewissen Grad bereits Wohlstand wider, wenn wir zum Beispiel daran denken, dass eine längere Lebensdauer zwangsläufig auch das Ergebnis eines gut funktionierenden Gesundheitssystems ist, welches auf Basis unseres wirtschaftlichen Wohlstands finanziert wird.

Das Beispiel der Lebenserwartung verdeutlicht aber auch, dass rein demographische Parameter nicht ausreichen, um Wohlstand zu beschreiben. Denn es sagt nichts darüber aus, ob ein Leben von neunzig oder hundert Jahren mit einer zufriedenstellenden Lebensqualität einhergeht oder nicht. Deswegen hat die Wissenschaft das Konzept der „gesunden Lebensjahre“ entwickelt: Dieses Maß misst die Zahl der Jahre, die eine Person in guter gesundheitlicher Verfassung lebt.

Ein weiteres Beispiel ist die Geburtenrate. Im Sinn einer modernen Familienpolitik geht es nicht darum, eine bestimmte Geburtenzahl zu erreichen, auch wenn die Bevölkerungsforschung traditionell beschreibt, was ein sogenanntes bestandserhaltendes Niveau ist, was wiederum eine entsprechend hohe Geburtenrate als wünschenswert suggeriert. Im Fokus der Politik steht hingegen das Ziel, dass Menschen ihre Lebensvorstellungen mit Kindern oder ohne Kinder möglichst gut realisieren können. Deswegen beschäftigt sich die Bevölkerungsforschung auch damit, ob Menschen etwa aufgrund einer schlechten Vereinbarkeit von Beruf und Familie ihre grundsätzlich vorhandenen Kinderwünsche aufgeben.

Die Bevölkerungsforschung stellt sich in diesem Kontext aber auch die Frage, ob beispielsweise das größere Angebot an Kinderbetreuungsmöglichkeiten hierzulande dazu geführt hat, dass wieder mehr Kinder geboren wurden oder es zu weniger Schwangerschaftsabbrüchen kam. Und sie fragt, ob ein gestiegenes Kitaangebot die Zufriedenheit damit steigert. Die Zufriedenheit mit der Kinderbetreuung ist demnach ein Indikator, um die (Nicht-)Verwirklichung von Kinderwünschen zu erklären.

Zudem kann das Bildungsniveau einer Bevölkerung als Wohlstandsmaß angesehen werden. Je höher die Bildung, umso höher der Wohlstand, denn ein höheres Bildungsniveau ist mit einem höheren technischen Fortschritt sowie einer höheren Produktivität und damit im Prinzip besseren Lebenschancen verbunden – und in der Tat steigt die Lebenszufriedenheit mit dem Bildungsniveau. Mehr wirtschaftlicher Wohlstand verbessert zudem die Bildungschancen von Kindern – auch das ist hinlänglich bekannt, wenn man an den Zusammenhang von elterlichem Einkommen und dem Bildungsniveau von Kindern denkt.

All diese Beispiele zeigen, dass und wie Wohlstand und demographische Ereignisse wie Geburt, Ein- oder Auswanderung oder Tod auf vielfältige Weise verknüpft sind. Wie kann es trotzdem gelingen, all dies mit einem einfachen, aber zugleich umfassenden Wohlstandskonzept – analog dem BIP – zu beschreiben und zu erklären?

Hinter dem Bruttoinlandsprodukt steht ein abstraktes Konzept, nämlich das des Nutzens, der von Gütern und Dienstleistungen gestiftet wird. Das BIP misst diesen Nutzen indirekt als Einkommen, das erzielt wird. Ein analoges Konzept zur Messung von Wohlstand kann die „allgemeine Lebenszufriedenheit“ sein. Dieses subjektive Maß drückt unmittelbarer als das Einkommen den Nutzen aus, den wir aus Gütern und Dienstleistungen ziehen.

Tatsächlich ist die Lebenszufriedenheit in der sogenannten positiven Psychologie weltweit als ein Maß des guten Lebens etabliert. Neben der Psychologie hat es Eingang in die Breite der Sozialwissenschaften, inklusive der Ökonomie, gefunden. Die Messung ist denkbar einfach, aber äußerst aussagekräftig: Repräsentativ ausgewählte Personen werden gebeten, eine Antwort auf die Frage zu geben „Wie zufrieden sind Sie alles in allem mit Ihrem Leben?“. Die Antworten werden wird in der Regel mit Hilfe einer 11er-Skala gemessen, die von null (für „ganz und gar unzufrieden“) bis zehn läuft (für „ganz und gar zufrieden“). Sozialwissenschaftliche Erhebungen weltweit erfassen so das individuelle Wohlbefinden. Zudem werden zusätzlich sogenannte bereichsspezifische Zufriedenheiten erfasst, wie zum Beispiel die Zufriedenheit mit der Familie, dem Einkommen oder dem Beruf.

Die Lebenszufriedenheit, die nicht zu verwechseln ist mit spontanen Glücksgefühlen, unterscheidet sich nach Alter und Geschlecht, nach Familienstand, Gesundheitszustand, Bildungsniveau und nach vielen anderen sozioökonomischen und -demographischen Faktoren. Nach allen bisherigen Erkenntnissen ist sie auf individueller Ebene über das Erwachsenenleben hinweg relativ konstant, denn das Bildungsniveau, das man erreicht hat, spielt eine große Rolle. Allerdings sinkt sie bei einschneidenden Lebensereignissen wie einer Trennung oder einer Verwitwung, und dies zumindest für einige Jahre; bei chronischer Krankheit sinkt sie auf Dauer.

Nicht ganz einfach ist es, die individuelle Lebenszufriedenheit aus eigener Kraft dauerhaft zu steigern. So hält der Anstieg der Zufriedenheit nach einer Heirat oder nach einer Geburt nur kurz an. Mit sinnerfüllenden Gedanken und Tätigkeiten, etwa durch soziale Aktivitäten, kann man seine Lebenszufriedenheit als Erwachsener anhaltend erhöhen. Dazu passt, dass Erwerbstätige dauerhaft zufriedener mit dem Leben sind als Arbeitslose.

Die Gesellschaft als Ganzes spielt auch eine Rolle und eben auch die von der Politik gesetzten Rahmenbedingungen, zum Beispiel die Infrastruktur in der direkten Nachbarschaft, aber auch Presse- und Meinungsfreiheit oder konkrete finanzielle Unterstützung, etwa durch Elterngeld oder Kurzarbeitergeld.

Das Wohlbefinden, erfasst über die allgemeine Lebenszufriedenheit, ist außerdem ein kommunikativ eingängiges und forschungsökonomisch gut zu erfassendes Maß, dessen Validität vielfach geprüft und bewiesen wurde. Denn Fragen über Wohlbefinden beantworten die meisten Personen gerne. Kurzum: Die (erfragte) Lebenszufriedenheit ist die lange gesuchte Ergänzung zum BIP, und das auch aus praktischer Sicht. Ergebnisse können sehr schnell vorliegen – im Gegensatz etwa zum Einkommen, bei dem viele Befragte Antworten verweigern. Einkommensdaten müssen daher aufwendig aufbereitet werden.

Wie steht es nun um die Lebenszufriedenheit in Deutschland? In den vergangenen drei Jahrzehnten vor dem Ausbruch der Coronapandemie ist sie gestiegen. Allerdings verlief dieser Anstieg nicht linear, sondern in Wellenbewegungen. Ein Rückschlag war etwa die Finanzkrise der Jahre 2008/2009.

Nach der Wiedervereinigung gab es in Ostdeutschland viel Aufbruchstimmung. Mit dem baldigen wirtschaftlichen Einbruch sank dort die Lebenszufriedenheit sehr deutlich. Heute liegt sie noch immer nicht ganz auf dem westdeutschen Niveau. Niedriger ist insbesondere die Zufriedenheit mit dem Einkommen. Eine Ausnahme bildet die Zufriedenheit mit der Kinderbetreuung. Sie ist im Osten höher als im Westen.

Ein Anstieg der Lebenszufriedenheit war auch in vielen anderen Ländern der EU zu beobachten. Deutschland lag bei der Lebenszufriedenheit in der Vor-Corona-Zeit im Mittelfeld, ist im Verlauf der Pandemie jedoch nach hinten gerutscht. Laut Eurostat betrug die Lebenszufriedenheit im Durchschnitt der EU-Länder im Jahr 2022 7,1 auf der besagten Skala von null bis zehn. Deutschland lag mit 6,5 etwas darunter. Am zufriedensten waren die Österreicher mit einem Mittelwert von 7,9. Auf den Plätzen danach folgten Polen, Rumänien und Finnland. Schlechter als Deutschland schnitt etwa Bulgarien mit einer mittleren Lebenszufriedenheit von 5,6 ab.

Insbesondere in der Coronapandemie hat sich gezeigt, wie größere Veränderungen die Lebenszufriedenheit beeinflussen. Während der Pandemie ist sie vor allem in Familien mit niedrigerem Bildungsniveau und mit geringem Einkommen gesunken – insbesondere bei Frauen mit Kindern. Besonders stark war der Einbruch in den Phasen, als Kitas und Schulen geschlossen waren. Entsprechend nahm die Zufriedenheit wieder zu, sobald die Bildungs- und Betreuungseinrichtungen wieder öffneten.

Dieser Befund mag nicht überraschen. Aber mit der Lebenszufriedenheit konnte die Belastung durch Schließungen valide empirisch erfasst und differenziert in ihrem Ausmaß beobachtet werden. Heute weiß man, dass Gruppen mit hoher Belastung mehr Unterstützung nötig gehabt hätten. Das wäre schon damals klarer gewesen, wenn man seitens der Politik differenzierter auf die erfragte Lebenszufriedenheit geachtet hätte.

Wie erwartet haben sich Veränderungen der Lebenszufriedenheit während der Coronapandemie auch in familiendemographischen Ereignissen niedergeschlagen. Beispielsweise ging die Zahl der Geburten zurück. Denn die Entscheidung für ein Kind korreliert sehr deutlich mit der Lebenszufriedenheit. So zeigen Studien, dass Frauen, die sich ein Kind wünschen, sich von denjenigen Frauen, die kinderlos bleiben, ungefähr fünf Jahre vor einer Geburt in ihrer Lebenszufriedenheit unterscheiden: Die künftigen Mütter sind mit ihrem Leben zufriedener als die Frauen, die auch später ohne Kind leben.

Bemerkenswert ist auch der Befund, dass Personen, die zu einem relativ frühen Zeitpunkt im Leben Eltern geworden sind, meist weniger zufrieden mit ihrem Leben sind. Das liegt daran, dass ein Kind nicht per se glücklich(er) macht, sondern es auch darauf ankommt, ob es gewünscht war und ob weitere Bedingungen erfüllt sind, etwa eine hohe Qualität der Partnerschaft und ein ausreichendes Einkommen. Neben der Paarsituation und der Beziehung zu den Kindern ist für die Lebenszufriedenheit der Eltern auch wichtig, wie verfügbar und wie gut die Kinderbetreuung ist. Der Ausbau der Plätze in Kitas für Kinder ab drei Jahren, wie er in den 1990er Jahren forciert wurde, hat so beispielsweise erwerbsorientierte Frauen zufriedener gemacht, nicht aber Männer.

Die Zufriedenheit mit der Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit beeinflusst aber nicht nur die allgemeine Lebenszufriedenheit von Eltern, sondern auch die der Kinder, und das nicht nur kurzfristig. Der intergenerationale Zusammenhang zwischen der Lebenszufriedenheit der Mutter und der ihrer Kinder ist empirisch belegt. Dasselbe gilt für den positiven Zusammenhang zwischen der Zufriedenheit der Mutter und kindlichen Entwicklungsindikatoren. Somit lässt sich ein Zusammenhang zwischen dem subjektiven Wohlbefinden der Mütter und dem Humanpotential von morgen konstatieren.

Das über die Lebenszufriedenheit gemessene individuelle Wohlergehen beeinflusst auch Wanderungsbewegungen. Vielfach erfolgt Migration mit dem Ziel, den eigenen Wohlstand zu steigern. Dies macht sich auch darin bemerkbar, dass die Lebenszufriedenheit nach Migration ansteigt, wenn auch nicht unbedingt auf Dauer. Die Zufriedenheit steigt insbesondere dann nicht nachhaltig, wenn bei internationaler Migration enge Familienangehörige im Heimatland zurückbleiben. Wir wissen aus der Forschung aber auch, dass weniger zufriedene Menschen eher daran denken, ihre Heimat zu verlassen, sie aber oft weniger finanzielle Mittel haben, um diesen Wunsch zu realisieren. So kann es zu einem „happiness drain“ (gemeint ist „Zufriedenheitsverlust“) kommen, da es sich in ärmeren Ländern eher zufriedene Menschen leisten können zu migrieren. Bemerkenswert ist auch, dass die subjektive Zufriedenheit Migration besser voraussagt als beispielsweise Erwartungen über Karriereaussichten oder vieles andere.

Auch in Hinblick auf das Altern zeigen sich vielfache Verbindungen zwischen Lebenszufriedenheit und Lebenserwartung. Eine hohe Lebenszufriedenheit verlängert die Lebenserwartung und zugleich auch die aktive Lebenszeit. Das haben zum Beispiel Lebensverlaufsdaten für Großbritannien und Japan gezeigt.

Die Coronazeit hat abermals verdeutlicht, dass eine Beschreibung des rein wirtschaftlichen Wohlstands nicht ausreicht, um zu wissen, wie es der Bevölkerung geht und wo sie besondere Belastungen wahrnimmt. Für eine Politik, die nicht mit der Gießkanne arbeiten will, sind Durchschnittswerte nicht ausreichend. Unterschiede in der Lebenszufriedenheit zwischen Gruppen und Regionen können deshalb wertvolle Hinweise für die Politik geben, wo wer gezielter unterstützt werden sollte und wo weniger dringende Bedarfe vorliegen. Die Analyse eines „Wellbeing Gaps“ als der Differenz im Wohlbefinden von zwei Gruppen kann somit eine wichtige Grundlage für die Gestaltung von Politik sein. Würden die Unterschiede detailliert beschrieben, hätte die Politik neben der Demoskopie aktuelle Anhaltspunkte dafür, wo ein Handlungsbedarf besteht – immerhin werden ganze Politikfelder auf anderen „Gaps“ aufgebaut, den „Gender Pay Gap“, den „Education Gap“ oder anderen Unterschieden, zum Beispiel in der Betroffenheit durch Arbeitslosigkeit.

Die Lebenszufriedenheit alleine sollte jedoch nicht der einzige Wohlstandsindikator sein. Vielmehr muss sie in Verbindung mit anderen Indikatoren zur Erfassung eines „guten Lebens“ auf der Basis repräsentativer Daten erhoben werden. Zur Beschreibung all dieser Faktoren liegen in Deutschland einige Surveys vor. Sie sollten systematisch(er) analysiert werden anstatt immer wieder neue Befragungen für neue Zwecke zu veranstalten und sie zu beenden, sobald das Interesse an ihnen erloschen ist. Stattdessen sollte die existierende sozialwissenschaftliche Dateninfrastruktur auch zur Beschreibung und Entwicklung des Wohlbefindens wie auch des demographischen Wandels verwendet werden.

Überlegenswert wäre es auch, ob in die jährliche Haushaltsbefragung des Statistischen Bundesamtes, dem amtlichen Mikrozensus, eine Frage aufgenommen werden könnte, die die Zufriedenheit erfasst. Die große Stichprobe – sie erfasst ein Prozent der Bevölkerung, also mehr als 800.000 Personen – liefert belastbare und zugleich differenzierte Ergebnisse, selbst für kleine und schwer erreichbare Bevölkerungsgruppen. Aber selbst die systematische, regelmäßige und differenzierte Erfassung der Zufriedenheit auf repräsentativen Datensätzen wäre allein nicht ausreichend, um Empirie wirkmächtig zu machen. Das haben die vergangenen Jahrzehnte deutlich gezeigt. Die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität”, die 2013 ein Indikatorensystem zur Messung von Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität vorschlug, empfahl deswegen eine (Selbst-)Verpflichtung der Bundesregierung. Sie sollte idealerweise per Gesetz festschreiben, dass sie zu einem durch Indikatoren regelmäßig ausgewiesenen Stand von Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität in konsistenter Weise explizit Stellung bezieht. Beim BIP ist das der Fall: Im Jahreswirtschaftsbericht muss die Bundesregierung zum Jahresgutachten der Wirtschaftsweisen Stellung beziehen. Die von der Ampelregierung in einem Sonderkapitel des Jahreswirtschaftsberichts ausgewiesenen 34 „Wohlfahrts“-Indikatoren werden dagegen nicht systematisch politisch kommentiert.

Eine über wirtschaftliche Belange hinausgehende, regelmäßige und forschungsbasierte Berichterstattung über das individuelle Wohlergehen, verdichtet in der erfragten Lebenszufriedenheit und damit unseren Wohlstand, würde der Politik zeigen, wie es um den Wohlstand in Deutschland bestellt ist – nicht nur, aber eben auch für die Demographiepolitik. Dabei darf es eben nicht nur darum gehen, wie groß, alt, bunt, mobil und wie gebildet unsere Bevölkerung ist. Es muss auch darum gehen, wie gut es ihr geht, denn das beeinflusst auch, wie sich der demographische Wandel entwickelt hat und künftig entwickeln wird.

Blätterfunktion

Inhalt des Dossiers

  1. 1. Der demographische Wandel betrifft jeden
  2. 2. Kriegen die Deutschen bald weniger Kinder?
  3. 3. Kinderwunsch und Wirklichkeit
  4. 4. In der Warteschleife
  5. 5. Wie lassen sich die Bildungspotentiale ausschöpfen?
  6. 6. Einwanderung im internationalen Wettbewerb gestalten
  7. 7. Stadt, Land, Dazwischen
  8. 8. Pendeln für die Arbeit, ja oder nein?
  9. 9. Alterung: Fluch oder Segen?
  10. 10. Niedrige Lebenserwartung in Deutschland – ein Warnsignal
  11. 11. Was wir über die globale Bevölkerungsentwicklung wissen
  12. 12. Gut leben in Deutschland
  13. Impressum

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