10. Niedrige Lebenserwartung in Deutschland – ein Warnsignal
Von Sebastian Klüsener und Domantas Jasilionis
Veröffentlicht in FAZ.NET am 15.07.2023
Trotz hoher Gesundheitsausgaben gehört Deutschland bei der Lebenserwartung zu den Schlusslichtern in Westeuropa. Die Bewältigung der Folgen der Alterung der Gesellschaft macht das nicht einfacher.
Zu Deutschlands Selbstverständnis gehört es, bei vielen Kennzahlen Spitzenpositionen einzunehmen. Es ist das bevölkerungsreichste Land der Europäischen Union mit dem größten Bruttoinlandsprodukt und einem stark ausgebauten Wohlfahrtsstaat. Weniger bekannt ist, dass Deutschland in Westeuropa bei einem der wichtigsten Gesundheitsindikatoren, der Lebenserwartung bei Geburt, zu den Schlusslichtern gehört.
Gleichzeitig nimmt Deutschland aber in Westeuropa bei den Gesundheitsausgaben pro Kopf eine Spitzenposition ein, wobei praktisch der gesamten Bevölkerung Zugang zu einer hochwertigen Gesundheitsversorgung gewährt wird. Was sind die Hintergründe für dieses Paradox, welches allein schon Anlass zur Sorge gibt? Und warum ist die relativ niedrige Lebenserwartung ein Warnsignal für die Bewältigung der aktuellen großen Aufgaben, die sich durch die Alterung der Gesellschaft stellen? Diesen Fragen wollen wir hier nachgehen.
Für einen internationalen Vergleich bieten sich die westeuropäischen Länder an, da deren Wohlfahrtsniveau mit dem von Deutschland vergleichbar ist. Wir betrachten hier die 15 westeuropäischen Länder inklusive Deutschland, welche vor der ersten EU-Osterweiterung im Jahr 2004 zur Europäischen Union gehörten, sowie als sechzehntes Land die Schweiz. Es werden Daten für das Jahr 2019 verwendet, um den Vergleich nicht durch kurzfristige Trendänderungen während der Coronapandemie zu beeinflussen.
Das Ergebnis dieses Vergleichs fällt für Deutschland nicht günstig aus. Bei den Männern liegt Deutschland mit einer Lebenserwartung von 78,8 Jahren auf Platz 15, mehr als drei Jahre hinter dem Spitzenreiter Schweiz mit 81,9 Jahren. Bei den Frauen befindet sich Deutschland mit 83,5 Jahren auf Platz 14, hier deutlich hinter dem Spitzenreiter Spanien mit 86,2 Jahren.
Wenn Männer und Frauen zusammen betrachtet werden, ist Deutschland sogar mit dem 16. Platz Schlusslicht. Im Gegensatz zu der Situation in den USA, die ein noch ungünstigeres Verhältnis zwischen Lebenserwartung und Gesundheitsausgaben aufweisen, ist Deutschlands schlechte Position selbst in der Fachwelt nur unzureichend bekannt.
Lebenserwartung: oft falsch interpretiert
Um Zahlen zum Indikator „Lebenserwartung“ richtig einordnen zu können, muss zunächst auf einige in der öffentlichen Diskussion häufig auftauchende Missinterpretationen eingegangen werden. Die Lebenserwartung bei Geburt für das Jahr 2019 gibt an, wie alt ein neugeborenes Kind hypothetisch durchschnittlich werden würde, wenn im Verlauf des Lebens in jedem Alter jeweils genau die altersspezifischen Sterberaten wirken würden, welche 2019 gemessen wurden. Insofern wird dieser Indikator in der Fachdiskussion als ein Maß verwendet, um die allgemeine Sterblichkeitssituation einer Bevölkerung in einem bestimmten Zeitraum zu erfassen.
Dr. Sebastian Klüsener leitet den Forschungsbereich „Alterung, Mortalität und Bevölkerungsdynamik“ des BiB.
Quelle: © Peter-Paul Weiler
In der öffentlichen Diskussion wird dagegen oft davon ausgegangen, mit diesem Indikator würden Prognosen darüber aufgestellt, wie lange heute geborene bzw. aktuell lebende Personen durchschnittlich leben werden. So wird der Indikator in der Fachdiskussion aber nur selten interpretiert, da für Prognosen auch Änderungstrends bei den Sterberaten berücksichtigt werden sollten. Diese Veränderungen können über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten erheblich sein.
Eine im Kontext unserer alternden Bevölkerung noch größere Problematik ergibt sich dadurch, dass häufig auch ältere Personen annehmen, die Lebenserwartung bei Geburt wäre für sie ein wesentlicher Maßstab. Wenn sie so vorgehen, unterschätzen sie aber tendenziell ihre verbleibende Lebenszeit. Bei der Berechnung der Lebenserwartung bei Geburt werden schließlich auch Todesfälle in jüngeren Altersgruppen berücksichtigt, welche ältere Personen bereits überlebt haben.
Für Personen, die auf das Rentenalter zugehen, ist daher die Lebenserwartung im Alter 65 viel aussagekräftiger. Lag die Lebenserwartung bei Geburt 2019 für Männer bei 78,8 Jahren und für Frauen bei 83,5 Jahren, so betrug die fernere Lebenserwartung der 65-Jährigen 18,1 bzw. 21,3 Jahre. Addiert man die bereits erreichten 65 Jahre hinzu, so ergibt sich für Personen im Alter von 65 Jahren eine durchschnittliche „Lebenserwartung“ von 83,1 Jahren bei den Männern und 86,3 Jahren bei den Frauen.
Diese Werte können auch viel eher als Prognose interpretiert werden, da sich Sterberaten innerhalb von 20 Jahren viel geringer verändern als über gesamte Lebensspannen. Derartige Zahlen tauchen in der öffentlichen Diskussion aber nur selten auf. Insofern ist davon auszugehen, dass viele Personen bei Entscheidungen in Bezug auf den Renteneintritt ihre verbleibenden Lebensjahre systematisch unterschätzen.
Wenig bekannt ist auch, dass in Deutschland große soziale Unterschiede bei der Lebenserwartung bestehen, und dass diese in den vergangenen Jahrzehnten nicht geringer, sondern größer geworden sind. Diese Unterschiede können in Deutschland wegen fehlender amtlicher Datenquellen nur indirekt berechnet werden, etwa anhand von Rentendaten und dort fundiert auch nur für Männer.
Für die jüngsten verfügbaren Berechnungen, die sich auf das Jahr 2016 beziehen, wurden die Rentenbezieher nach den während der gesamten beruflichen Laufbahn erworbenen Rentenpunkten in fünf gleich große Gruppen geteilt. Westdeutsche Männer in der niedrigsten Gruppe hatten mit 65 Jahren eine fernere Lebenserwartung von 15,7 Jahren, in der höchsten Gruppe dagegen eine fernere Lebenserwartung von 20,4 Jahren. Insofern ergibt sich hier ein Unterschied von fast fünf Jahren. In Ostdeutschland war die Differenz mit 15,8 beziehungsweise 21,2 Jahren sogar noch etwas höher.
Die Vergrößerung der sozialen Differenzen seit Ende der 1990er Jahre ist frappierend. Damals lag der Unterschied zwischen der niedrigsten und der höchsten Gruppe in Westdeutschland nur bei drei und in Ostdeutschland bei 3,5 Jahren. Allgemein ist festzuhalten, dass Deutschland durchschnittlich eine vergleichsweise niedrige Lebenserwartung verzeichnet. Allerdings gibt es auch große Gruppen, die eine sehr hohe Lebenserwartung haben. Hierzu zählen insbesondere Personen mit hohen Renten.
Was sind die Ursachen für die relativ niedrige Lebenserwartung?
In einer kürzlich veröffentlichten Studie im European Journal of Epidemiology haben wir uns zusammen mit Alyson van Raalte und Pavel Grigoriev eingehend mit dieser Frage beschäftigt. Es zeigt sich, dass sich der Rückstand Deutschlands auf führende Länder wie Japan, Spanien, die Schweiz und Frankreich überwiegend durch eine erhöhte Sterblichkeit an Herz-Kreislauf-Erkrankungen erklärt.
Hier ist wichtig, zu betonen, dass die Verlängerung der Lebenserwartung in den vergangenen fünfzig Jahren überwiegend durch eine verbesserte Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen erreicht werden konnte. Auch Deutschland konnte dabei große Fortschritte erzielen, aber nicht in dem Maß, wie dies anderen Ländern gelungen ist. Insofern gibt es in Deutschland noch viele Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die eigentlich vermeidbar wären.
Deutschlands Rückstand tritt auch bereits in relativ jungen Sterbealtern auf. Männer in Deutschland haben schon ab einem Alter von 50 Jahren eine geringere Lebenserwartung als die Vorreiterländer. So verliert Deutschland bei Altern zwischen 50 und 65 Jahren gegenüber der Schweiz bereits fast ein Jahr an Lebenserwartung. Bei Frauen erklärt sich der Rückstand dagegen überwiegend aus erhöhter Sterblichkeit in Altern über 65 Jahren.
Die Suche nach den zugrunde liegenden Ursachen gestaltet sich schwieriger. Wie bereits angesprochen wurde, gehört Deutschland bei den Gesundheitsausgaben pro Kopf zu den Spitzenreitern. Studienergebnisse weisen darauf hin, dass die Vorbeugung und die Früherkennung von Krankheiten in Deutschland im internationalen Vergleich eher unterentwickelt sind. Dies hat zur Folge, dass viele Erkrankungen erst relativ spät behandelt werden, also wenn sie bereits stark fortgeschritten und Behandlungen oft sehr kostenintensiv sind.
Diffuser werden die Befunde bei der Frage, ob auch das Gesundheitsverhalten der Bevölkerung zu der höheren Sterblichkeit durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen beiträgt. So sind etwa hoch verarbeitete Lebensmittel weit verbreitet, was gegenüber der mediterranen Ernährungsweise in den südeuropäischen Ländern ein Nachteil sein könnte. Beim Rauchen und Alkoholkonsum, die mit vielen Herz-Kreislauf-Todesfällen in Verbindung stehen, sticht Deutschland dagegen nicht besonders hervor. Über die genauen Ursachen für Deutschlands Schlusslichtposition in Westeuropa muss sich die Forschung noch Klarheit verschaffen.
Warum die niedrige Lebenserwartung für die Alterung der Gesellschaft problematisch ist
Für das Rentensystem stellen die zunehmenden sozialen Unterschiede bei den Lebenslängen, gerade auch im höheren Alter, eine Herausforderung dar. Wie bereits gezeigt wurde, ist die Lebenserwartung von Personen mit hohen Renten deutlich höher, wobei die Unterschiede zu Personen mit niedrigen Renten weiter zunehmen. Insofern tragen gerade Personen mit hohen Renten zu finanziellen Herausforderungen im Rentensystem durch die Alterung bei. Wenn dem nun mit Erhöhungen des gesetzlichen Renteneintrittsalters begegnet werden sollte, ginge dies mehr zu Lasten von Personen mit niedrigen Renten, da deren durchschnittlich verbleibender Anteil von Lebenszeit in Rente stärker reduziert würde.
Dies bedeutet nicht, dass Anhebungen des gesetzlichen Renteneintrittsalters, wie sie momentan bis 2031 erfolgen, grundsätzlich problematisch sind. Schließlich hat sich die Lebenserwartung in den vergangenen Jahrzehnten in allen Bevölkerungsgruppen verlängert. Derartige Maßnahmen sollten aber wie bisher mit sozialem Augenmaß erfolgen und entsprechend flankiert werden. Eine Anpassung der Sozialsysteme an die Herausforderungen durch den Alterungsprozess wäre einfacher zu bewerkstelligen, wenn es gelänge, die sozialen Unterschiede bei den Lebenslängen zu reduzieren.
Auch für das Gesundheitssystem ist die geringe Lebenserwartung trotz hoher Gesundheitsausgaben ein Warnsignal. Sowohl für die Ausgaben als auch für das Wohlbefinden einzelner Personen und ihrer Angehörigen ist es am besten, wenn Menschen nach einem langen gesunden Leben ohne größere Krankheit versterben.
Die letzten Lebensjahre sehen in Deutschland aber oft anders aus: Bereits stark erkrankte Personen werden mit hohen Kosten behandelt. Andere Länder weisen dagegen ein deutlich besseres Verhältnis zwischen Gesundheitsausgaben und Lebenserwartung auf, unter anderem durch einen stärkeren Fokus auf Prävention. Dies deutet auf Ineffizienzen im deutschen Gesundheitssystem hin. Es ist abzusehen, dass sich diese Problematik durch die Alterung der Babyboomer noch verstärken wird, da diese Entwicklung den Anteil älterer Personen weiter erhöht.
Was Deutschland besser machen kann
Um Deutschlands Rückständigkeit bei der Lebenserwartung zu überwinden und uns damit auch auf die Alterung der Bevölkerung besser einzustellen, halten wir drei ineinandergreifende Maßnahmen für wesentlich.
Erstens muss das Gesundheitsbewusstsein in der Bevölkerung gestärkt werden. Denn unabhängig davon, wie weit Deutschland international beim Gesundheitsverhalten zurückliegt, ist in diesem Bereich noch viel Luft nach oben. Zugang zu gesunder Ernährung ist zwar zum Teil auch eine Kostenfrage, sie ist aber auch in einem hohen Maße eine Wissensfrage. So ist das Wissen über gesunde Verhaltensweisen in gut situierten Bevölkerungsteilen sehr weit verbreitet.
Dr. Domantas Jasilionis ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock.
Quelle: © Privat
Anders sieht es dagegen bei sozial schlechter gestellten Bevölkerungsteilen aus, da dort schmale Geldbeutel häufig mit mangelndem Wissen über das Warum und Wie einer gesunden Ernährungsweise gepaart sind. Auch gesundheitsschädliche Verhaltensweisen wie das Rauchen konzentrieren sich zunehmend in diesen Bevölkerungsteilen.
Besonders vielversprechend, das Gesundheitsbewusstsein auch gerade in sozial schlechter gestellten Bevölkerungsteilen zu stärken, sind Maßnahmen im Kindes- und Jugendalter. Während es für die Gesellschaft außer Frage steht, dass jedes Mitglied unserer Gesellschaft Kompetenzen in Bereichen wie Lesen, Schreiben und Mathematik erwerben soll, kommen Kompetenzen für eine gesunde Lebensweise auf dem Lehrplan nur begrenzt vor. Hier besteht viel Potenzial, um durch den Ausbau der Vermittlung dieser Kompetenzen Menschen besser darauf vorzubereiten, ein möglichst gesundes Leben zu leben. Während solche Maßnahmen eher langfristig wirken, so bestehen auch bei älteren Bevölkerungsschichten noch erhebliche Potenziale, um deren Gesundheitsbewusstsein zu stärken. Auch dort sollte der Fokus gerade auf sozial schlechter gestellten Bevölkerungsteilen liegen.
Zweitens muss die Funktionsweise des Gesundheitssystems überprüft werden. In Deutschland ist es zu sehr auf die kostenintensive Behandlung von bereits stark fortgeschrittenen Erkrankungen fokussiert, während der präventive Bereich unterentwickelt ist. Dies hat zur Folge, dass Personen sich oft erst dann mit ihrer Gesundheit beschäftigen, wenn sie bereits schwer erkrankt sind. Dann können sie auf ein sehr gut ausgebautes Gesundheitssystem zurückgreifen, welches aber auch sehr kostenintensiv ist.
Ein humanerer und kostengünstigerer Ansatz wäre allerdings, wenn durch präventive Maßnahmen mehr Krankheiten vorgebeugt oder früh erkannt würden. Diese Umstellung hin zu einem größeren Fokus auf präventive Maßnahmen erfordert einen Kulturwandel, der in unserem komplexen Gesundheitssystem nur schwer zu vollziehen ist. Es finden sich im aktuellen Koalitionsvertrag zahlreiche Maßnahmen, die in die richtige Richtung weisen. Hierzu zählt etwa die Schaffung eines Nationalen Präventionsplans. Aber um die aktuelle Logik zu durchbrechen, werden ein langer Atem und viel politischer Wille nötig sein.
Zum dritten haben in den vergangenen Jahrzehnten fast alle Länder Westeuropas erhebliche Anstrengungen unternommen, um bessere statistische Daten zur Verfügung zu haben. Diese erlauben, soziale Probleme in den Bevölkerungen genauer zu erfassen und mit politischen Maßnahmen gezielter angehen zu können. Dabei wurden unterschiedliche Wege beschritten. In Deutschland hat die amtliche Statistik auch Fortschritte gemacht, aber in vielen Bereichen nicht in dem Maße wie im westeuropäischen Ausland.
Um etwa sozial ausgewogene Reformen unseres Rentenversicherungssystems ins Auge zu fassen, wäre es sehr hilfreich, ein vertieftes Verständnis zu besitzen, wie sich die Lebenserwartung in verschiedenen sozialen Gruppen unterscheidet. Diese Trends lassen sich mit den zur Verfügung stehenden Daten nur bedingt ermitteln. Der Registerzensus, der vom Jahr 2031 an derartige Daten liefern soll, verspricht Abhilfe, kommt aber für die Bewältigung der durch die Alterung der Babyboomer entstehenden Herausforderungen zu spät. Insofern besteht hier dringender Handlungsbedarf. Auch bei den verfügbaren Gesundheitsdaten ist im Vergleich zu anderen Ländern noch Luft nach oben.
Mit diesem Dreiklang an Maßnahmen könnten mindestens drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Durch die Vorbeugung und frühzeitige Erkennung von Krankheiten können (1) die Lebensqualität der Bevölkerung gesteigert, (2) die Teilhabemöglichkeiten älterer Personen in gesellschaftlichen Entwicklungen verbessert, und (3) einer Explosion der Kosten im Gesundheits- und Pflegesystem entgegengewirkt werden.
Diese Systeme stehen angesichts der Alterung der Babyboomer ohnehin stark unter Druck. Da es sich hier um eine Win-Win-Win-Situation handelt, ist schon die Frage angebracht, warum wir in diesem Bereich trotz eines akuten Handlungsbedarfs nur langsam vorankommen.
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