1. Der demographische Wandel betrifft jeden
Von C. Katharina Spieß und Marcel Thum
Veröffentlicht in der FAZ am 15.05.2023
Die Veränderungen des Bevölkerungsaufbaus wirken sich nicht nur auf den Arbeitsmarkt und die Rentenversicherung aus. Politik und Gesellschaft stehen vor viel umfassenderen Aufgaben.
„Der demographische Wandel hat begonnen“, ist des Öfteren in politischen Konzeptpapieren und populärwissenschaftlichen Darstellungen zu lesen. Diese Diagnose ist unzutreffend, wenn sie nicht gar in die Irre führt. Den demographischen Wandel gab es schon immer.
In den vergangenen 150 Jahren ist die Zahl der Geburten von 4,7 Kindern je Frau auf ein langjähriges Niveau von 1,5 gefallen. Die Lebenserwartung Neugeborener hat sich mehr als verdoppelt, von 38 auf 83 Jahre bei Mädchen und von 36 auf 79 Jahre bei Jungen. Auch die Bevölkerung hat sich im selben Zeitraum mehr als verdoppelt, und das, obwohl die Fläche Deutschlands heute ein Drittel kleiner ist. Auch Migrationsströme sind seit Jahrhunderten zu beobachten. Im 17. und 18. Jahrhundert wanderten viele Deutsche nach Ost- und Südosteuropa aus. Im 19. Jahrhundert zog es Millionen Deutsche nach Amerika. Im Gegenzug nahm zum Beispiel das spätere Preußen im 17. Jahrhundert viele Hugenotten aus Frankreich auf. Und seit den 1960er-Jahren kamen Millionen Gastarbeiter, Spätaussiedler und andere Migranten nach Deutschland.
Eine gefährliche Verkürzung
Heute ist mit der Formel demographischer Wandel in Deutschland zumeist gemeint, dass die Bevölkerung schrumpft und die Zahl der Arbeitskräfte zurückgeht. Diese Trends sind seit Langem unübersehbar – nur sind die damit verbundenen Probleme heute drängender denn je. Zum demographischen Wandel der vergangenen Jahrzehnte gehört überdies auch, dass die Lebenserwartung steigt, dass Frauen und Männer später Eltern werden, dass sich die Familienstrukturen verändern, dass mehr Personen allein leben, dass mehr Menschen, die hierzulande leben, nicht in Deutschland geboren sind und dass die Vielfalt der Gesellschaft insgesamt zunimmt. Wenn sich die politische Debatte auf die Bevölkerungsgröße oder die Alterung verengt, werden Entwicklungen übersehen, die für die Politik und die Gesellschaft nicht weniger wichtig sind und vorausschauendes Handeln erfordern.
Prof. Dr. C. Katharina Spieß ist Direktorin des BiB und lehrt Bevölkerungsökonomie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Quelle: © Peter-Paul Weiler
Jedoch leidet nicht nur die Debatte über die Dimensionen des demographischen Wandels unter einer gefährlichen Verkürzung. Viele Unschärfen gibt es auch dort, wo die Aufgaben, die der demographische Wandel mit sich bringt, den unterschiedlichen politischen Ebenen zugewiesen werden. In der öffentlichen Debatte dominiert seit mittlerweile mehreren Jahrzehnten die Lage der gesetzlichen Rentenversicherung. Das umlagefinanzierte System steht wegen des Rückgangs der Erwerbsbevölkerung und der steigenden Lebenserwartung auf einer gänzlich anderen Basis als bei seiner Etablierung. Das Rentensystem benötigt mittlerweile einen jährlichen Zuschuss aus Steuermitteln in dreistelliger Milliardenhöhe.
Die Stellschrauben, allen voran eine regelgebundene, an den Anstieg der Lebenserwartung in gesunden Jahren geknüpfte Regelaltersgrenze, sind in der akademischen Literatur ausführlich diskutiert worden und im politischen Raum wohlbekannt. Dort fehlt es nicht an Erkenntnis, sondern an dem Willen, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Aktuell etwa ist keine der im Bundestag vertretenen Parteien bereit, das Risiko einzugehen, mit der Ankündigung eines höheren Renteneintrittsalters in den 2040er-, 2050er- oder gar 2060er-Jahren möglicherweise heutige Wählerschaften zu vergraulen. Um die Risikoscheu stand es in Deutschland allerdings schon einmal besser. Anders, als es aktuell bei unseren französischen Nachbarn zu erleben ist, gelang es hierzulande in einem gemeinsamen Kraftakt von SPD und CDU/CSU im Jahr 2007, das Eintrittsalter für die abschlagsfreie Rente stufenweise auf 67 Jahre anzuheben – ohne große Proteste und gesellschaftliche Zerwürfnisse.
Im Zentrum vieler Debatten steht neben der gesetzlichen Renten- auch die gesetzliche Krankenversicherung. Deren Ausgaben werden zum einen durch den technischen Fortschritt in die Höhe getrieben, zum anderen durch den demographischen Wandel in Gestalt der stark besetzten Kohorten der geburtenstarken Jahrgänge der späten 1950er- und der 1960er-Jahre. Die sogenannten Babyboomer erreichen allmählich Altersstufen, in denen in der Regel hohe Gesundheitskosten anfallen. Die „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“, die Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach im Mai 2022 eingesetzt hat, soll diesen Entcwicklungen Rechnung tragen. Allerdings zeigt diese Reformdebatte exemplarisch, dass nicht allein der Bund gefragt ist. Planung und Finanzierung der Krankenhäuser fallen auch in die Kompetenz der Länder.
Angebote müssen vor Ort gemacht werden
Viele der administrativen oder politischen Aufgaben zur Bewältigung des demographischen Wandels entfallen sogar komplett auf die Ebene von Ländern und Kommunen. Eine Zunahme von Alleinerziehenden oder von Haushalten mit betagten Alleinlebenden bedeutet, dass die Selbstversicherungsfunktion familiärer Lebensformen zurückgeht. So gab es 1996 nur 2,2 Millionen Alleinerziehendenhaushalte – 2022 waren es gut 25 Prozent mehr. Der Anteil der Einpersonenhaushalte hat ebenfalls zugenommen. Spiegelbildlich abgenommen haben die Partnerhaushalte, in denen Kinder leben. Im Jahr 2021 lebten noch 37 Prozent der Frauen im Alter von 30 Jahren mit Partner oder Partnerin sowie mit Kind(ern) – im Jahr 1996 waren es noch 53 Prozent.
Mit der Veränderung der Lebensformen verbunden ist ein höherer Bedarf an Kindertagesbetreuung außerhalb der Familie sowie an ganztägigen Schulangeboten. Ältere Menschen hingegen bedürfen mehr pflegerischer Betreuung in Privathaushalten oder Alten- und Pflegeeinrichtungen. Die Nachfrage nach solchen Dienstleistungen entsteht vor Ort, also müssen die Angebote vor Ort gemacht werden. Die Versorgung im Alter oder die Kindertagesbetreuung müssen zwar nicht unbedingt vollständig in staatlichen Einrichtungen erbracht werden, doch erwarten die Bürgerinnen und Bürger zumindest, dass sich die Kommunalpolitiker um die Verfügbarkeit eines adäquaten Angebots kümmern.
Auch bei einer weiteren Dimension des demographischen Wandels, der vielfältiger werdenden Bevölkerung, sind zumeist regionale oder lokale Akteure in der Politik gefragt. Eine Region mit vielen Einwanderern, die über keine oder wenig Deutschkenntnisse verfügen, muss sich verstärkt um Sprachangebote und Integration kümmern.
Das Bewusstsein für die ständige regionale Anpassung an neue demographische Gegebenheiten ist in Deutschland vielfach noch nicht so ausgeprägt, wie es sein könnte, ja müsste. Einige Gebietskörperschaften haben sich jedoch schon auf die neuen Gegebenheiten eingestellt. Nicht nur die Länder betreiben mittlerweile Demographiepolitik auf wichtigen Handlungsfeldern, auch viele Kreise und Kommunen halten hierfür Konzepte, Pläne und Projekte bereit – wie ein Blick auf das Demographieportal des Bundes und der Länder im Internet zeigt. Dieses Portal hat das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) als Teilprojekt der Demographiestrategie der Bundesregierung im Jahr 2012 gemeinsam mit den Ländern entwickelt. Mittlerweile hat es sich als deutschlandweite Informationsplattform zur Demographiepolitik etabliert und bietet Vernetzungsmöglichkeiten für Demographiebeauftragte auf den verschiedenen Ebenen. Bund und Länder können also beim Thema Demographie an einem Strang ziehen. Sie müssen es nur wollen.
Als Wohn- und Arbeitsort für Fachkräfte attraktiv sein
Wie viele es von diesen Demographiegestalterinnen und -gestaltern auf lokaler Ebene in Deutschland gibt, ist nirgends festgehalten. Aber sie und andere engagierte Menschen vor Ort sorgen dafür, dass der demographische Wandel auch auf regionaler Ebene organisiert, das Leben gleichwertiger gestaltet und die Bevölkerung gut versorgt wird. Die Länder ermöglichen dies oft durch Förderprogramme für Kommunen, Vereine oder Verbände. Das Demographieportal zeigt sehr viele gute Beispiele, wie Regionen auf den Wandel reagieren.
In Rheinland-Pfalz etwa gibt es vielfältige Projekte, um Dörfer für die Zukunft zu rüsten. Der größte und zugleich am wenigsten besiedelte rheinland-pfälzische Landkreis, der Eifelkreis Bitburg-Prüm, bietet seinen Gemeinden einen „Zukunftscheck Dorf“. Bislang haben 300 Ortsgemeinden Hilfe zur Selbsthilfe bei den Themen Alterung, Leerstand oder soziales Miteinander erhalten. Und es gibt die „Digitalen Dörfer“, die zeigen sollen, wie sich die Digitalisierung für ländliche Regionen nutzen lässt. Seit dem Jahr 2015 wurden einige digitale Anwendungen entwickelt, von der „Dorffunk-App“ zwecks Verbesserung der Kommunikation im Dorf bis hin zur „LieferBar“, einem gemeinschaftlich organisierten „Mitbringservice“.
Prof. Dr. Marcel Thum lehrt Finanzwissenschaft an der TU Dresden und ist Vorsitzender des Kuratoriums des BiB.
Quelle: © Klaus Gigga
In ländlichen Gebieten geht es oft auch darum, als Wohn- und Arbeitsort für Fachkräfte attraktiv zu sein. Das Projekt „Heim[at]office“ stärkt das ortsflexible, digitale Arbeiten im Land Brandenburg. Rückkehrer- oder Willkommensagenturen in diesem Land wie „Comeback Elbe-Elster“ oder in Niedersachsen die „Fachkräfteagentur Wendlandleben“ werben um Fachkräfte und bieten umfassende Beratung für Rückkehrwillige. Das „Network Waldeck-Frankenberg“ wiederum hat zum Ziel, Studienabsolventen zurück in ihre nordhessische Heimat zu holen, und möchte den Begriff „Karriere machen“ auch im ländlichen Raum verankern. Initiativen in verschiedenen Ländern wollen etwas gegen die unbesetzten Landarztstellen tun. Ein mehrfach preisgekröntes Beispiel ist die „Klasse Allgemeinmedizin“, die Studentinnen und Studenten auf eine Tätigkeit in ländlichen Regionen Sachsen-Anhalts vorbereitet.
Städte stehen mitunter vor anderen demographischen Herausforderungen als ländliche Räume. Beispielsweise erfahren viele Eltern keine Unterstützung durch die Großeltern. Leihgroßeltern im thüringischen Jena schließen diese Lücke; Ähnliches leistet der Großelterndienst in Berlin. Das Projekt „andersWohnen – Senioren und Alleinerziehende gemeinsam“ in Nürnberg zeigt, wie sich verschiedene Generationen gegenseitig unterstützen können.
Die doppelte Herausforderung der Länder
Um bei knappen finanziellen Mitteln Daseinsvorsorge sicherstellen zu können, bieten sich die interkommunale Zusammenarbeit oder Verwaltungsgemeinschaften an. Die aus vier Kommunen zusammengeschlossene Kleeblattregion mit der Stadt Kyritz als Mittelzentrum im Nordwesten Brandenburgs oder der hessische Gemeindeverwaltungsverband Feldatal-Grebenau-Romrod-Schwalmtal etwa sind auf diesem Gebiet Vorreiter. All diese Beispiele zeigen, dass die Folgen des demographischen Wandels vor Ort angegangen werden können und sich manche Ansätze auch überregional umsetzen lassen. Hilfreich wäre es für die Zukunft, auch den Ertrag dieser Projekte öffentlich zu bewerten, um Mittel effektiv und effizient einzusetzen und auch andernorts davon zu lernen.
Aus finanzwissenschaftlicher Perspektive stehen die Länder bei der Anpassung an demographische Veränderungen vor einer gleich doppelten Herausforderung: Erstens ist es mit ihrer Finanzautonomie nicht weit her, und zweitens haben sie typischerweise mit einer großen Heterogenität demographischer Entwicklungen auf ihrem Territorium zu kämpfen. Das macht eine landesweit einheitliche Demographiepolitik schwierig.
Die Länder hängen letztendlich am gesamtdeutschen Steueraufkommen. Bis auf die Grunderwerbsteuer, die insgesamt nur wenig zum gesamten Steueraufkommen beiträgt, können die Länder die Steuersätze nicht direkt selbst festsetzen. Darüber hinaus verteilt der Länderfinanzausgleich Mittel von reicheren hin zu ärmeren Ländern um. Das ist richtig und wichtig für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse.
Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit geht wegen des Finanzausgleichs aber nicht Hand in Hand mit fiskalischen Einnahmen. Wie viele Mittel ein Land zur Verfügung hat, hängt – insbesondere für die Empfängerländer im Länderfinanzausgleich – von den bundesweiten Steuereinnahmen und der Einwohnerzahl des eigenen Landes ab. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass ein Land, das mit einer schrumpfenden Bevölkerung rechnet, auch sinkende Einnahmen zu erwarten hat. Da es aber kaum über Instrumente verfügt, um zusätzliche Steuereinnahmen zu generieren, muss es sich über die Ausgabenseite an die schrumpfenden Einnahmen anpassen.
Große Unterschiede zwischen den Regionen
Wenn die Länder in der Zukunft ihre fiskalischen Spielräume nicht komplett verlieren wollen, müssen sie im Zuge einer vorausschauenden Demographiepolitik rechtzeitig auf der Ausgabenseite anpassen. Die Betonung liegt hier auf „rechtzeitig“, da ein Großteil der Ausgaben der Länder auf Personal entfällt. Einstellungsentscheidungen von heute wirken sich auf die Ausgabenverpflichtungen in den kommenden 30 oder 40 Jahren aus. Leider haben viele Länder diese langfristige Perspektive aus den Augen verloren und stocken, so könnte man aus einer politökonomischen Perspektive anmerken, ihr Personal immer wieder gerade kurz vor Landtagswahlen auf.
Die zweite Herausforderung ist die große Heterogenität der demographischen Entwicklungen. Selbst wenn die Einwohnerzahl eines Landes annähernd konstant bliebe, gäbe es neben Gemeinden, die wachsen, solche, die stagnieren oder schrumpfen. Im Aggregat mag es so aussehen, als bestünde kein großer Handlungsbedarf, da die Bevölkerungszahl insgesamt konstant bleibt. Doch ist es offensichtlich, dass es zwischen städtischen, stadtnahen und ländlichen Regionen große Unterschiede gibt.
Die Leistungen der Daseinsvorsorge müssen in den wachsenden Gemeinden ausgebaut und in den schrumpfenden Gemeinden reduziert werden. Die räumliche Heterogenität macht aber nicht nur eine Landespolitik unmöglich, die für alle Kommunen einheitliche Regelungen vorsieht. Sie verlangt den politischen Akteuren auch Mut zum Handeln ab. Gerade in den schrumpfenden Regionen wird es Widerstand gegen Anpassungsmaßnahmen geben. Gegen sie wird oft das Argument ins Feld geführt, dass die staatlichen Leistungen fix seien und nicht von der Bevölkerungszahl abhängig gemacht werden könnten. Allerdings ist die Anpassung in vielen Fällen keine technische Unmöglichkeit, sondern eher eine Frage des politischen Willens.
Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass öffentliche Leistungen weitgehend proportional zur relevanten Bevölkerungsgröße angepasst werden können. Wenn es in einer Gemeinde weniger Kinder gibt, wird sie auf Dauer auch weniger Kitaplätze benötigen. Für frei werdende Räumlichkeiten müssen neue Verwendungen gesucht werden, und die Erzieherinnen und Erzieher müssen ihrer Arbeit dort nachgehen, wo die jungen Familien ihre Betreuungsleistungen nachfragen. Auf anderen Berufsfeldern wird es so sein, dass das Personal, das nicht mehr benötigte Leistungen angeboten hat, durch rechtzeitige Weiterbildungen auf andere Felder wechseln kann, die regional eher gefragt sind.
Nur wenn auch das lebenslange Lernen vor Ort mitgedacht wird, können regionale Arbeitsmärkte atmen; insgesamt werden größere Binnenwanderungsströme zwischen Regionen notwendig. Beides bedarf einer längerfristigen Planungsperspektive und einer verantwortungsvollen Weiterbildungspolitik. Solche Anpassungen können mühsam sein und stoßen nicht selten auf politischen Widerstand, sind aber vor dem Hintergrund der oben beschriebenen knappen Finanzen unumgänglich.
Viele Beispiele auf dem Demographieportal
Es gibt aber auch öffentliche Leistungen, die sich unterhalb einer kritischen Bevölkerungsgröße gar nicht mehr anbieten lassen. Sie sollten nur in zentralen Orten vorgehalten werden. Dazu gehören teure Kultureinrichtungen wie Museen, Theater und Opernhäuser, aber auch Freizeiteinrichtungen wie botanische oder zoologische Gärten. In stark schrumpfenden Gemeinden wird sich die eine oder andere öffentliche Leistung nicht mehr anbieten lassen. Ein Aussitzen des Anpassungsprozesses ist eine große Gefahr für die zukünftige Handlungsfähigkeit einer Kommune. Die Fixkosten verteilen sich auf immer weniger Köpfe, und die Mittel für andere, dringend benötigte Leistungen fehlen. Auch hier kann die Antwort nur eine rechtzeitige Anpassung sein.
In Musterprojekten haben einzelne Kommunen und Länder gute Lösungen gefunden, um diese Entwicklungen sozial abzufedern. Auch dafür gibt es viele Beispiele auf dem Demographieportal. Hierzu gehören Theater, die im ländlichen Raum mehrere Bühnen bespielen, wie die Wanderoper Brandenburg, oder auch die bessere Anbindung an die größeren Städte, in denen die öffentlichen Leistungen weiter verfügbar sind oder sogar ausgebaut werden konnten. Weitere Beispiele sind digitale Ortsbusse, Mitfahrbänke oder die Verzahnung des Individualverkehrs mit dem ÖPNV. Auch im Bereich der Wasserversorgung macht sich dies bemerkbar. Mit dem bundesweit einmaligen Verbundsystem „Westeifelprojekt“ werden in einer Region mit starkem demographischem Wandel Trinkwasserversorgung, Energieeffizienz und der Ausbau des Glasfasernetzes kombiniert.
Viel staatlicher Gestaltungswillen erforderlich
Diese Beispiele zeigen, dass sinnvolle Anpassungsmaßnahmen nicht unbedingt mit einer Verschlechterung der Lebensqualität einhergehen oder die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse gefährden müssen. Es sind aber vielfach Beispiele, die politischen Gestaltungswillen voraussetzen. Viele staatliche Aufgaben in den Kommunen und Ländern betreffen allerdings gar nicht so sehr physische Güter wie etwa die Museen, sondern bestehen aus Dienstleistungen wie in den Bürgerbüros oder Finanzämtern. Auch hier ist eine Angleichung der Personalstärke an die Bevölkerungsgröße unumgänglich. Durch die Knappheit an Arbeitskräften entsteht jedoch ein zusätzlicher Anpassungsbedarf.
Beschäftigte in der Industrie und in Teilen des privaten Dienstleistungssektors erfahren durch den technischen Fortschritt ein beständiges Produktivitätswachstum. Da sich die Löhne der Beschäftigten im öffentlichen Dienst weitgehend im Gleichschritt mit den Löhnen in der Privatwirtschaft entwickeln, würden die Kosten öffentlicher Leistungen ständig weiter steigen, wenn die Produktivität nicht gesteigert würde. In der Fachwelt ist dieses Phänomen als baumolsche Kostenkrankheit bekannt.
Daher ist es dringend nötig, dass auch der öffentliche Sektor die Digitalisierung für Produktivitätssteigerungen nutzt. Anders als der Privatsektor unterliegen die öffentlichen Dienstleistungen typischerweise keinem direkten Wettbewerbsdruck. Das Landgericht oder das Ausländeramt können nicht Insolvenz anmelden, selbst wenn weiterhin Papierakten durch die Gänge geschoben werden. Aber die Kosten pro Leistung, die diese Einrichtungen liefern, würden immer weiter steigen. Und die Kosten fehlender Anpassungen drohen noch schneller zu steigen, sollten die Bürgerinnen und Bürger mit den Füßen abstimmen und Kommunen mit schlecht arbeitenden Verwaltungen verlassen. Als wie belastend das in der Öffentlichkeit erlebt wird, zeigt sich schon in Wahlkämpfen wie denen in Berlin, in denen es seit Jahren auch um das spröde Thema Verwaltungsmodernisierung geht.
Auf Digitalisierung setzen
Aber nicht nur wegen der Kosten, sondern auch aus Arbeitsmarktgründen ist eine Beschleunigung des technischen Fortschritts im öffentlichen Sektor angesichts des demographischen Wandels dringend notwendig. Ohne Anpassungen wird der staatliche Sektor den privaten Firmen dringend benötigte Arbeitskräfte entziehen. Aktuell hat die öffentliche Verwaltung im Mittel deutlich niedrigere Nichtbesetzungsquoten als das verarbeitende Gewerbe und die Dienstleistungssektoren. Dies legt nahe, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Jobs im staatlichen Sektor wegen der Höhe der Löhne, der Arbeitszeit und der Sicherheit im Beruf attraktiv finden. Dringend benötigt wird aber ein Digitalisierungsschub, der auch im öffentlichen Sektor Arbeitskräfte einspart.
Selbstverständlich gibt es auch Felder, auf denen sich der öffentliche Sektor schwertut, Fachkräfte zu gewinnen. Manche Kitas müssen wegen fehlender pädagogischer Fachkräfte früher schließen, und im Schulsektor werden Lehrkräfte händeringend gesucht. Wenn der Staat in diesen Bereichen Fachkräfte beispielsweise durch bessere Bezahlung gewinnen will, dann muss er erst recht in anderen Bereichen Effizienzgewinne erzielen, indem er auf Digitalisierung setzt. Der demographische Wandel betrifft jeden und jede Region, den Bund, das Land, die Gemeinde und die Kommune vor Ort – Anpassungen sind auf allen Ebenen notwendig. Sehr gute Beispiele gibt es, die das Ergebnis einer vorausschauenden Politik sind. Eine solche ist mehr denn je notwendig.
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