Pressemitteilung • 12.07.2023Geflüchtete aus der Ukraine: Knapp die Hälfte beabsichtigt längerfristig in Deutschland zu bleiben
Ergebnisse der zweiten Befragung ukrainischer Geflüchteter: Fast die Hälfte beabsichtigt zu Beginn des Jahres 2023 längerfristig in Deutschland zu bleiben – Erwerbstätigkeitsquote gegenüber Spätsommer 2022 etwas gestiegen, Erwerbsabsicht hoch – Großteil der Geflüchteten lebt in privaten Unterkünften, psychisches Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen verbessert sich leicht – Politik sollte zügig Klarheit über künftige Aufenthaltsperspektiven schaffen.
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 sind mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Die Lebensbedingungen und Teilhabechancen dieser Geflüchteten haben sich hierzulande seitdem verbessert: Zu Beginn des Jahres 2023 besucht die Mehrheit von ihnen einen Sprach- oder Integrationskurs oder hat diesen bereits abgeschlossen, fast vier von fünf geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern leben in einer privaten Wohnung oder einem Haus. Der Anteil der erwerbstätigen Geflüchteten ist zwischen Spätsommer 2022 und Jahresbeginn 2023 leicht gestiegen. Unter den nicht erwerbstätigen Geflüchteten besteht ein hohes Interesse, eine Arbeit aufzunehmen. Fast die Hälfte der ukrainischen Geflüchteten beabsichtigt mittlerweile längerfristig in Deutschland zu bleiben, Tendenz steigend. Das sind einige Ergebnisse der zweiten Befragungswelle der Studie „Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland (IAB-BiB/FReDA-BAMF-SOEP-Befragung)“. Dabei handelt es sich um ein gemeinsames Forschungsprojekt des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB), des Forschungszentrums des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ) und des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin).
Bereits im vergangenen Spätsommer wurden mehr als 11.000 geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer zwischen 18 und 70 Jahren in ganz Deutschland befragt, Anfang 2023 dann erneut fast 7.000 Personen dieser Gruppe, um die aktuellen Lebensbedingungen und Veränderungen zu dokumentieren.
„Das Zwischenfazit ist durchaus ermutigend – die gesellschaftliche Teilhabe hat zuletzt deutliche Fortschritte gemacht“, erklärt Markus M. Grabka, SOEP-Direktoriumsmitglied im DIW Berlin. „Ein Selbstläufer ist das jedoch nicht“, ergänzt Yuliya Kosyakova, Leiterin des Forschungsbereichs „Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung“ am IAB in Nürnberg. „Die Geflüchteten benötigen Planungssicherheit, ob sie sich in Deutschland langfristig aufhalten dürfen – auch wenn der Krieg beendet sein wird. Gerade für den Deutscherwerb und die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit sind die Perspektiven enorm wichtig.“
Vielfach langfristige Bleibeabsichten
Obwohl bisher nicht klar ist, ob und für wie lange das derzeit bis März 2024 befristete Aufenthaltsrecht für Ukrainerinnen und Ukrainer verlängert werden wird, beabsichtigt zu Beginn dieses Jahres mit 44 Prozent fast die Hälfte der Geflüchteten längerfristig – also zumindest noch einige Jahre oder sogar für immer – in Deutschland zu bleiben. Gegenüber dem Spätsommer 2022 sind das fünf Prozentpunkte mehr. Von den 71 Prozent derjenigen Personen, die nicht für immer in Deutschland bleiben möchten, planen 38 Prozent, nach Kriegsende in die Ukraine zurückzukehren, weitere 30 Prozent wollen einen engen Kontakt nach Deutschland halten und zumindest zeitweise hier leben. Eine große Rolle für die Bleibeabsichten spielen die familiäre Situation und die soziale Integration: Wer beispielsweise eine Partnerin oder einen Partner im Ausland hat, beabsichtigt deutlich seltener für immer in Deutschland zu bleiben. Geflüchtete, die auf (Aus-)Bildungssuche sind, gute Deutschkenntnisse haben und sich hierzulande willkommen fühlen, wollen hingegen wahrscheinlicher für immer bleiben.
Hohe Teilnahme an Sprach- und Integrationskursen
Insbesondere beim Erlernen der deutschen Sprache gibt es bis Anfang 2023 deutliche Fortschritte: Drei von vier ukrainischen Geflüchteten haben zu diesem Zeitpunkt einen oder mehrere Deutschkurse besucht oder bereits abgeschlossen, am häufigsten einen Integrationskurs. Die Deutschkenntnisse haben sich nach eigener Einschätzung der Geflüchteten seit dem Spätsommer 2022 verbessert: „Sehr gute“ oder „gute“ Deutschkenntnisse bescheinigen sich Anfang 2023 zwar mit acht Prozent nur wenige Geflüchtete, die Antwort „es geht“ fällt mit 27 Prozent (gegenüber zuvor 14 Prozent) jedoch deutlich häufiger. Der Anteil der Geflüchteten, die angeben „gar nicht“ der deutschen Sprache mächtig zu sein, hat sich mehr als halbiert (auf 18 Prozent Anfang 2023).
„Da ein Großteil der Geflüchteten zu Jahresbeginn noch einen Integrationskurs besuchte, sollte der Anteil mit Abschlüssen mittlerweile weiter gestiegen sein. Durch weitere Sprachkursbesuche sowie den Austausch im Privaten und im künftigen beruflichen Alltag dürften sich die Deutschkenntnisse noch weiter verbessern“, erklärt Nina Rother, Leiterin des Forschungsfelds „Integration und gesellschaftlicher Zusammenhalt“ am BAMF-FZ in Nürnberg.
Aufgrund der hohen Beteiligung an Sprach- und Integrationskursen, die die künftigen Arbeitsmarktchancen verbessern, ist die Erwerbstätigkeitsquote im Vergleich zum Spätsommer 2022 nur etwas gestiegen: 18 Prozent der 18- bis 64-Jährigen gehen zu Beginn des Jahres 2023 einer Beschäftigung nach, im Spätsommer 2022 waren es 17 Prozent. Über zwei Drittel der ukrainischen Geflüchteten, die Anfang 2023 (noch) nicht erwerbstätig waren, wollen dies sofort oder innerhalb des kommenden Jahres tun. Das dürfte sich dann auch positiv auf das (bedarfsgewichtete) Haushaltseinkommen der Geflüchteten auswirken, das zum Befragungszeitpunkt bei durchschnittlich 850 Euro liegt. Der Medianwert, also das Einkommen genau in der Mitte der Verteilung, beträgt unter den geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern nur 750 Euro und ist damit insgesamt weniger als halb so hoch wie in der Gesamtbevölkerung in Deutschland.
Psychisches Wohlbefinden von minderjährigen Geflüchteten nach wie vor oft beeinträchtigt
Einen erheblichen Teil der Geflüchteten machen Kinder und Jugendliche aus: Etwa jede zweite Ukrainerin ist mit mindestens einem minderjährigen Kind nach Deutschland gekommen, knapp die Hälfte dieser Kinder ist jünger als zehn Jahre. Die meisten Kinder und Jugendlichen haben ihren Eltern zufolge insgesamt eine gute oder sehr gute Gesundheit. Das psychische Wohlergehen hat sich im Vergleich zur ersten Befragung leicht verbessert, liegt aber nach wie vor unter den Normwerten von anderen Kindern und Jugendlichen in Deutschland.
Während fast alle schulpflichtigen Kinder aus der Ukraine eine allgemein- oder berufsbildende Schule besuchen, nehmen nur wenige Eltern die Kindertagesbetreuung in Anspruch – auch wenn die Nutzung zunimmt: Jedes zweite Kind im Alter bis einschließlich sechs Jahren nimmt zu Beginn des Jahres 2023 eine außerhäusliche Kinderbetreuung in Anspruch.
„Ein ausreichend großes Angebot an KiTa-Plätzen ist für die große Gruppe ukrainischer Geflüchteter in Deutschland wichtig. Für Eltern, um Sprachkurse besuchen und eine Erwerbstätigkeit aufnehmen zu können – und für Kinder, um die Sprache zu lernen, einen strukturierten Alltag zu haben und Freunde zu finden“, betont Andreas Ette, Leiter der Forschungsgruppe Internationale Migration am BiB in Wiesbaden.
Darüber hinaus empfehlen die Studienautorinnen und -autoren der Politik, schnell über die Verlängerung des vorübergehenden Schutzes ukrainischer Geflüchteter über März 2024 hin-aus zu entscheiden oder andere längerfristige Aufenthaltsperspektiven zu schaffen. Vor dem Hintergrund der vielfach geäußerten Bleibeabsichten der Geflüchteten sei dies zentral: „Investitionen in die soziale Teilhabe und in Beschäftigungsverhältnisse setzen Planungs- und Rechtssicherheit sowie verlässliche Aufenthaltsperspektiven voraus – sowohl für die Geflüchteten selbst als auch für die deutsche Gesellschaft“, resümieren die Forschenden. Zudem seien weiterhin ausreichende finanzielle Mittel und Personal für Integrationsprogramme, Bildung und Ausbildung erforderlich.
Quelle: DIW Berlin