Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung

26.06.2019 | Neue BiB-StudieKinderreiche Familien in Deutschland – Auslaufmodell oder Lebensentwurf für die Zukunft?

Kinderreichtum ist in Deutschland selten geworden. Mit einem Anteil von rund 16 Prozent kinderreicher Frauen liegt Deutschland im europäischen Vergleich im unteren Mittelfeld. Dennoch: Rund 7 Millionen Menschen in Deutschland leben aktuell in einem Haushalt mit drei oder mehr Kindern. Dies entspricht rund 1,4 Millionen Familien. Anders als viele andere Familienkonstellationen treffen Mehrkindfamilien häufig auf Vorbehalte in der Gesellschaft. Dabei nehmen diese Familien für die demografische Entwicklung eine wichtige Stellung ein. Die neue Studie des BiB stellt diese Familien in den Mittelpunkt: Wer sind die Kinderreichen in Deutschland? Wo wohnen sie und in welchen Lebenslagen befinden sie sich? Erstmalig zeigt die Studie auch die regionale Verteilung kinderreicher Familien auf Kreisebene.

Die abnehmende Häufigkeit von Kinderreichtum ist eines der zentralen Merkmale des demografischen Wandels. Diese Entwicklung hat bereits im 19. Jahrhundert begonnen und sie ist bis heute zu beobachten. Noch zu Anfang der 1970er Jahre haben etwa 30 Prozent der Frauen in Deutschland drei oder mehr Kinder zur Welt gebracht. Seitdem ist dieser Anteil nochmals deutlich auf derzeit etwa 16 Prozent gesunken. Die Mehrheit dieser Frauen hat drei Kinder, nur 4 Prozent haben vier oder mehr Kinder. Der Rückgang von Familien mit drei oder mehr Kindern ist, mehr noch als die rasche Verbreitung dauerhafter Kinderlosigkeit, der maßgebliche demografische Treiber für den Geburtenrückgang in Deutschland und des immer noch niedrigen Niveaus der Geburtenrate.

Video: Pressekonferenz zur Studienpräsentation


Kinderreichtum in Baden-Württemberg, Bremen und Bayern am stärksten verbreitet

Bei der Verbreitung kinderreicher Familien gibt es innerhalb Deutschlands erhebliche regionale Unterschiede. In Bezug auf die Bundesländer sind Kinderreiche besonders stark in Baden-Württemberg vertreten, wo jede fünfte Frau der Jahrgänge 1965 bis 1974 drei oder mehr Kinder geboren hat (20,6 Prozent). Darauf folgen Bremen (17,2 Prozent) und Bayern (17,0 Prozent).

Die vergleichsweise geringste Verbreitung findet sich hingegen in Sachsen-Anhalt (9,3 Prozent) – hier ist nur rund jede elfte Frau aus diesen Geburtsjahrgängen dreimal oder häufiger Mutter geworden. In Brandenburg ist es nur jede neunte (11,6 Prozent). Auch Berlin und Mecklenburg-Vorpommern (je 13,0 Prozent) liegen deutlich unter dem bundesdeutschen Mittelwert von 16,2 Prozent.

Die niedrigen Anteile an kinderreichen Familien im Osten Deutschlands lassen sich vor allem historisch erklären: Die Anforderungen an die Erwerbstätigkeit von Frauen in der ehemaligen DDR senkte deren Bereitschaft, weitere Kinder zu bekommen. Dadurch ist die Zwei-Kind-Norm, aber auch die Akzeptanz von Einzelkindern in Ostdeutschland bis heute noch stark verbreitet. Auch der niedrige Anteil von Frauen mit Migrationshintergrund ist als weitere Ursache zu nennen.

Welche Regionen sind besonders kinderreich?

Ein am BiB entwickeltes Schätzmodell ermöglicht kleinräumlichere Betrachtungen auf Ebene der Städte und Landkreise. Für 398 kreisfreie Städte und Landkreise stehen mit der neuen Studie nun erstmals Daten zur Verfügung. Dabei werden regionale Cluster deutlich: Einen besonders hohen Anteil an kinderreichen Frauen haben Kreise im Westen Niedersachsens (Cloppenburg: 25,4 Prozent; Vechta: 25 Prozent) sowie in der Grenzregion zwischen Baden-Württemberg und Bayern (Unterallgäu: 23,1 Prozent). Im Gegensatz dazu finden sich zahlreiche Kreise mit weniger als acht Prozent in Sachsen-Anhalt (Dessau-Roßlau: 7,4 Prozent). Generell ist der Anteil kinderreicher Familien in ländlichen Gegenden höher als in Großstädten und in Westdeutschland höher als im Osten. Die neuen Befunde weisen darauf hin, dass regionale Faktoren bezüglich der kulturellen Prägung, der öffentlichen Daseinsvorsorge, des Wohnraums und der spezifischen Lebensverhältnisse in Stadt und Land eine zentrale Rolle spielen.

Europäischer Vergleich

Deutschland liegt im Europavergleich mit einem Anteil von rund 16 Prozent kinderreicher Frauen im unteren Mittelfeld. Die skandinavischen Länder (Norwegen: 33 Prozent; Finnland: 29 Prozent; Schweden: 27 Prozent) weisen durchweg höhere Anteile kinderreicher Frauen auf, Ähnliches gilt für die angelsächsischen Staaten (Irland: 36 Prozent; England/Wales: 28 Prozent). Niedrigere Anteile kinderreicher Frauen finden sich insbesondere in Südeuropa (Portugal: 15 Prozent; Italien: 12 Prozent, Spanien: 11 Prozent). In den osteuropäischen Ländern lässt sich hingegen kein einheitliches Muster erkennen.

Lebenssituation von Mehrkindfamilien

Die Studie zeigt nicht nur, wo Familien mit drei oder mehr Kindern leben, sondern auch, wie sie leben. Dabei spielt beispielsweise die Wohnsituation eine zentrale Rolle. Gerade in Großstädten ist der Wohnraum meist auf Familien mit zwei Kindern ausgelegt. Weitere wichtige Indikatoren für die Lebenswirklichkeit von Mehrkindfamilien sind das Einkommen und die Erwerbstätigkeit und Arbeitsteilung. Typisch für Mehrkindfamilien ist die traditionelle Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. Frauen übernehmen dort noch stärker als in anderen Familienformen einen Großteil der Haus- und Familienarbeit.

Gesellschaftliche Anerkennung oder Stigmatisierung?

Die vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung durchgeführte Befragung junger Erwachsener zum Familienleitbild zeigt, wie stark sich die persönliche Einstellung von der wahrgenommenen Meinung der Allgemeinheit unterscheidet. So stimmt nur etwa jeder zehnte Befragte der Aussage zu, Kinderreiche seien „asozial“; gleichzeitig glauben aber über 80 Prozent, dass Kinderreiche von der Gesellschaft als „asozial“ angesehen werden. Die Gründe für diese Stigmatisierung sind unterschiedlich: Sie sind zum einen historisch gewachsen, zum anderen werden diese Klischees auch medial weiterhin bedient. Es ist jedoch bemerkenswert und ein gutes Signal für die Zukunft, dass viele junge Erwachsene selbst positiv über Kinderreiche denken.

Geschwisterreichtum – Kinderreichtum aus der Kinderperspektive

Während nur etwa jede sechste Frau im Alter von 40 bis 55 Jahren kinderreich ist, stellt sich die Situation aus Kinderperspektive durchaus anders dar. Danach haben 33 Prozent der zehnjährigen Kinder in Deutschland mindestens zwei Geschwister, mit denen sie zusammen in einem Haushalt leben. Da ältere Geschwister bereits ausgezogen sein können, liegt der Anteil von Kindern aus kinderreichen Familien an allen Kindern sogar noch höher. Deutlich mehr als ein Drittel aller Kinder in Deutschland kommt also aus einer kinderreichen Familie. Mithin gibt es gegenwärtig nur eine vergleichsweise geringe Zahl kinderreicher Familien, aber diese erziehen einen erheblichen Teil aller Kinder.

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