Fertilitätstrends in OECD-Ländern • 27.06.2024Nur Geburtenaufschub oder dauerhafter Geburtenrückgang?
Die meisten OECD-Länder verzeichnen seit Jahrzehnten rückläufige oder stagnierende Geburtenraten, darunter auch Deutschland. Über die Ursachen dieser Entwicklung diskutierten beim OECD-Webinar am 20. Juni 2024 Expertinnen und Experten aus der Forschung auf der Grundlage des neu erschienenen OECD-Reports „Society at a Glance: A spotlight on fertility trends“. Mit dabei waren auch BiB-Direktorin Univ.-Prof. Dr. C. Katharina Spieß und BiB-Forschungsdirektor Prof. Dr. Martin Bujard.
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Die Geburtenrate in den OECD-Ländern ist von 3,3 Kindern pro Frau im Jahr 1960 auf nur 1,5 Kinder im Jahr 2022 gesunken. Zudem sind Frauen heute mit durchschnittlich 29 Jahren deutlich älter bei der Geburt ihres ersten Kindes, betonte Dr. Monika Queisser, Leiterin der OECD-Abteilung Sozialpolitik.
Wirtschaftliche Lage ist wichtig für Familiengründung
Wo liegen die Ursachen für den auffälligen Geburtenrückgang? Neben hohen Wohnkosten und schlechten Arbeitsmarktbedingungen spielt vor allem Unsicherheit eine entscheidende Rolle. Der Bildungsökonom Prof. Dr. Matthias Doepke (London School of Economics and Political Science) machte deutlich, dass die Wirtschaftslage für die Entscheidung, eine Familie zu gründen, wichtig ist. Zudem wird aus Studien deutlich, dass da, wo die Kindertagesbetreuung besser ausgebaut ist, auch mehr Kinder geboren werden, so Prof. Doepke. Welche Faktoren junge Menschen davon abhalten, eine Familie zu gründen, untersuchte Dr. Silke Borgstedt vom SINUS-Institut. „Der Wunsch nach einer Familie bei den 20- bis 39-Jährigen wird beeinflusst durch die Sorge um ein leistbares Leben in Zukunft, etwa durch hohe Mieten“, so Dr. Borgstedt. Wahrgenommene Chancenungleichheit sowie soziale Ungleichheit kommen erschwerend hinzu.
Gute Familienpolitik wirkt
Dass auch Familienpolitik einen Einfluss auf die Fertilität hat, bestätigte Prof. Dr. C. Katharina Spieß mit Blick auf Deutschland. „Eine große Rolle für das gestiegene Geburtenniveau in Deutschland seit etwa 2010 spielt vor allem der Ausbau der Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren. Auch der Ausbau der ganztägigen Betreuung von Grundschulkindern dürfte dabei von Bedeutung sein“, betonte die BiB-Direktorin. Die These, dass der Einfluss der Familienpolitik nicht so groß ist, weil in Skandinavien die Geburtenraten auch niedrig sind, ist per se zwar naheliegend, aber: „Es kann auch sein, dass die Familienpolitik nicht mehr zu den Vorstellungen von Eltern passt – Eltern legen heute sehr viel Wert auf eine gute frühe Bildung in der Kindertagesbetreuung“, so Prof. Dr. Spieß. Damit haben sich die Ansprüche an die Familienpolitik verändert: „Familienpolitik ist oft die Reaktion auf Veränderungen in den Einstellungen von Eltern. Allerdings ist es auch so, dass Familienpolitik, wie etwa der Kitaausbau, wiederum elterliche Einstellungen verändert. Deshalb reichen derzeit die Kitaplätze immer noch nicht aus, obwohl das Angebot heute die Nachfrage von früher übersteigt“, sagte sie.
Multiple globale Krisen als eine Ursache
„Seit den 1970er Jahren war Deutschland eines der Schlusslichter bei den Geburtenraten und liegt seit dem Anstieg in den 2010er Jahren im europäischen Mittelfeld“, erklärte Prof. Dr. Martin Bujard. „In den Jahren 2022 und 2023 gab es nach BiB-Berechnungen einen Einbruch der Geburtenrate. 2023 lag sie in Deutschland bei 1,36 Kindern“, so der BiB-Forscher. Ähnliche Rückgänge zeigen sich in sämtlichen europäischen Ländern. Einen Hauptgrund sieht er in der großen Unsicherheit aufgrund vielfältiger globaler Krisen. Dazu kommt bei vielen jungen Erwachsenen die gestiegene Erwartung, dass zunächst alle Bedingungen stimmen müssen. Letztlich gehört zu einer Entscheidung für Kinder auch Mut. Grassierende Unsicherheit ist daher ein wichtiger Treiber für den Geburtenrückgang, der nach übereinstimmender Meinung der Diskutierenden zunächst weiter anhalten wird.