Interview | 27.10.2023Familiendynamiken von Migranten und Geflüchteten
Was weiß die Forschung über das Geburtenverhalten und die Familiendynamiken von Migrierten und deren Nachkommen in Europa und weltweit? Im Interview spricht BiB-Migrationsforscherin Dr. Elisabeth K. Kraus über aktuelle Befunde einer internationalen Konferenz in Wiesbaden.
Die Organisatorinnen der Konferenz: Dr. Elisabeth K. Kraus (BiB) und Dr. Eleonora Mussino (Stockholm University). Es fehlt Dr. Nadja Milewski (BiB).
Quelle: Elisabeth K. Kraus
Am 12. und 13. Oktober 2023 fand in Wiesbaden eine internationale wissenschaftliche Konferenz des European Consortium for Sociological Research (ECSR), der European Association for Population Studies (EAPS) und des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) zu diversen Themen rund um Fertilität, Partnerschaft und Familie von Migranten und Migrantinnen in unterschiedlichen Ländern statt.
Die Konferenz wurde von den BiB-Wissenschaftlerinnen Dr. Elisabeth K. Kraus und Dr. Nadja Milewski sowie Dr. Eleonora Mussino von der Stockholm University Demography Unit (Schweden) organisiert.
Insgesamt nahmen rund 50 Forschende aus Deutschland, aus verschiedenen europäischen Ländern sowie aus Kanada an der Tagung teil. Es war bereits die dritte internationale Konferenz, die von der EAPS Working Group “Fertility and Family Dynamics in Migrant and Minority Groups” organisiert wurde. Im Interview äußert sich Dr. Kraus zu den Themen der Konferenzbeiträge und zieht ein Resümee der Veranstaltung.
Frau Dr. Kraus, welche Forschungsthemen standen im Fokus der Konferenzbeiträge?
Die sieben thematischen Sessions befassten sich mit sehr unterschiedlichen Aspekten von Migration, Integration, Familiendynamiken sowie Fertilitätsabsichten und -verhalten. Untersucht wurde zudem der Einfluss familienpolitischer Maßnahmen auf Fertilitätsentscheidungen von Migranten und Migrantinnen. Welchen Einfluss können plötzlich auftretende externe Schocks wie etwa die Coronapandemie oder der Krieg gegen die Ukraine auf Familiendynamiken von zugewanderten und einheimischen Personen haben? Auch dieses Thema stand im Fokus der Konferenz.
Mit Blick auf die Zuwanderungssituation in Deutschland hat mein Kollege aus dem BiB, Dr. Andreas Backhaus, gemeinsam mit einem Wissenschaftlerteam die Fertilitätsentwicklung von Geflüchteten vor und nach ihrer Ankunft in Deutschland untersucht. Ihre vorläufigen Ergebnisse zeigen, dass die Geburtenrate unter den untersuchten weiblichen Geflüchteten vor der Migration zunächst stabil geblieben, dann kurz nach der Ankunft angestiegen und schließlich mit längerem Aufenthalt wieder zurückgegangen ist.
Sie haben in Ihrem eigenen Konferenzbeitrag zusammen mit Dr. Nadja Milewski die Rolle von Partnerschafts- und Geburtenverhalten von Geflüchteten aus Eritrea und Syrien vor und nach ihrer Ankunft in Deutschland untersucht. Welche Veränderungen haben Sie festgestellt?
Auf der Basis unseres quantitativen BiB-Surveys „Forced Migration and Transnational Family Arrangements – Eritrean and Syrian Refugees in Germany“ (TransFAR) haben wir gezeigt, dass die familiäre Situation, also der Partnerschaftsstatus und auch die Anzahl der bereits geborenen Kinder, vor und während der Flucht, entscheidend für das Fertilitätsverhalten im Zielland ist. Wir wissen auch, dass bei Geflüchteten die Migration oftmals mehrere Monate oder sogar Jahre dauern kann, und sich das natürlich auch im Fertilitätsverhalten dieser Personen widerspiegelt. Dies gilt in stärkerem Maße für weibliche Befragte im Vergleich zu männlichen Befragten. Aber auch unterschiedliche Herkunftskontexte sind entscheidend.
Was sind aus Ihrer Sicht die wesentlichen Botschaften dieser Konferenz?
Zum einen wurde deutlich, dass aktuelle globale Entwicklungen und Ereignisse wie die Coronapandemie oder der Ukrainekrieg bereits Eingang in die Forschung zu Fertilität und Migration gefunden haben. Zum anderen ist der Blick auf die Forschung in anderen Ländern auch für unsere eigene Arbeit hilf- und lehrreich. Mit dem Thema Flucht und Migration werden nahezu alle aufnehmenden Länder vor die Frage der Integration und Teilhabe von Geflüchteten gestellt. Dazu spielt natürlich auch das Fertilitätsverhalten von Geflüchteten eine wichtige Rolle, wie in zahlreichen Vorträgen deutlich wurde.
Der überwiegende Teil der Forschung zu Geflüchteten hat sich bisher meist mit Fragen der Arbeitsmarktintegration oder der Bildungsteilhabe beschäftigt. Durch die vermehrte Fluchtmigration hat sich das globale Migrationsgeschehen verändert – weg von individueller Arbeitsmigration hin zur Migration von ganzen Familien. Das Thema Familiennachzug hat auch an Bedeutung gewonnen. Somit besteht mittlerweile ein großes wissenschaftliches Interesse daran, die Familiendynamiken und damit auch das Fertilitätsverhalten von Geflüchteten zu erforschen.