Interview | 06.04.2023Alter und Bildung beeinflussen Mobilitätsgeschehen in Deutschland
Über den aktuellen Stand der räumlichen Mobilitätsforschung wurde am 30. und 31. März 2023 auf dem internationalen Workshop „Current Perspectives on Spatial Mobilities“ diskutiert, der gemeinsam vom BiB, dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und der Hochschule Zittau/Görlitz veranstaltet wurde. BiB-Mobilitätsforscher PD Dr. Heiko Rüger, der dem Organisationskomitee angehörte, zieht im Interview ein Resümee der Veranstaltung. Zudem präsentierte eine Forschergruppe des BiB Analysen zum Mobilitätsgeschehen in Deutschland für den Zeitraum zwischen 1985 und 2019 anhand von Daten des Mikrozensus. BiB-Wissenschaftler Dr. Nico Stawarz stellt dazu zentrale Befunde vor.
Herr Dr. Rüger, was war die Zielsetzung der Veranstaltung?
PD Dr. Heiko Rüger
Es war uns wichtig, aktuellen Fragen der räumlichen Mobilitätsforschung eine Plattform zu geben, mit dem Ziel der internationalen Vernetzung zwischen den Forscherinnen und Forschern auf diesem Gebiet. Da diese Forschung viele Disziplinen – wie die Soziologie, Geografie oder Ökonomie – vereint, hat sie auf den großen Fachkonferenzen oft keine eigene Heimat. Die überwältigende Resonanz auf die Veranstaltung zeigt jedoch, dass ein großes Bedürfnis nach Austausch von Erkenntnissen und Ideen besteht. An den zwei Tagen präsentierten rund 80 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 12 Ländern in 30 Vorträgen ihre neuesten Forschungsergebnisse.
Wie lautet Ihr persönliches Fazit der Veranstaltung?
Aus meiner Sicht wurde vor allem die Vielfalt der Forschung zu räumlicher Mobilität deutlich. Die Themen reichten von Zusammenhängen mit Umwelt, Segregation und Integration über Arbeits- und Bildungsmärkte bis hin zu regionaler Bevölkerungsentwicklung und Wohnstandortentscheidungen von Migrantinnen und Migranten. Dies zeigt wiederum die Relevanz räumlicher Mobilität für das Verständnis zentraler Fragen unserer Zeit.
Herr Dr. Stawarz, hat das räumliche Mobilitätsgeschehen in der deutschen Gesellschaft zugenommen? Sind mehr Menschen räumlich mobil?
Dr. Nico Stawarz
Zunächst muss definiert werden, welche Mobilitätsformen betrachtet wurden: Wir haben internationale Rückwanderung nach Deutschland, Umzüge innerhalb Deutschlands sowie das Pendelverhalten untersucht. Generell lässt sich feststellen, dass die internationale Rückwanderung nach Deutschland seit den 1990er Jahren zugenommen hat. Beim Pendeln ist seit Mitte der 1980er Jahre zudem ein Anstieg der Personen zu beobachten, die täglich eine einfache Entfernung von mindestens 25 km oder mindestens 30 Minuten zurücklegen. Anders sieht es bei den Wanderungsbewegungen innerhalb Deutschlands aus: Diese waren in den letzten 30 Jahren auf einem stabilen Niveau.
Gibt es sozioökonomische Faktoren, die einen Einfluss auf das Mobilitätsgeschehen haben?
Ja. Unter anderem das Alter und der Bildungsgrad. Wir beobachten bei den 18- bis 29-Jährigen eine Zunahme des Anteils von mobilen Personen bei allen drei untersuchten Mobilitätsformen. Zudem sind bei Höhergebildeten stärkere Zuwächse bei der internationalen Rückwanderung und beim Pendelverhalten zu finden. Beim Wanderungsgeschehen innerhalb Deutschlands ist der Anteil von Umzügen in allen Bildungsgruppen hingegen weitestgehend stabil.
Nun basiert ihre Analyse auf dem Zeitraum vor der COVID-19-Pandemie. Wie hat sich das Mobilitätsgeschehen nach 2019 verändert, besonders im Hinblick auf die Binnenwanderung?
Bei den Umzügen in Deutschland gab es im Jahr 2020 Rückgänge um etwa 5 Prozent verglichen mit 2019, besonders unter den jungen Erwachsenen zwischen 18 und 29 Jahren. Für das Jahr 2021 zeigt sich beim Binnenwanderungsgeschehen eine Rückkehr zum Niveau vor der Pandemie. Die Wanderungsverluste für die größten Städte haben sich allerdings weiter erhöht, gerade bei Familien und Menschen mittleren Alters. In den Jahren 2020 und 2021 zogen auch weniger junge Erwachsene in die Städte. Inwieweit das Pandemiegeschehen längerfristige Auswirkungen auf die Binnenwanderung in Deutschland haben wird, ist derzeit noch nicht klar erkennbar.