Veranstaltung von OECD, BiB und IAB | 03.11.2021Die Bedeutung nicht-kognitiver Fähigkeiten in der Pandemie
Wie ist es Kindern, Jugendlichen und Familien in der Corona-Pandemie ergangen? Die Corona-Pandemie hat Kinder, Jugendliche und ihre Eltern psychisch zum Teil enorm belastet. Die langen Schul- und Kitaschließungen beförderten zum einen Sorgen der Eltern um die Bildung und Gesundheit ihrer Kinder. Dagegen litten gerade Jugendliche vielfach unter psychischen Folgen, wie im Rahmen einer Diskussionsrunde des OECD Berlin Centre, des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BIB) sowie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) deutlich wurde.
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Zudem standen auf der Basis einer neuen OECD-Studie auch die sozio-emotionalen Kompetenzen von Kindern im Mittelpunkt der Diskussion. Diesen Fähigkeiten wurde in der Pandemie weniger Beachtung geschenkt, dabei sind sie von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung der Kinder. An der Diskussion waren auch die neue BiB-Direktorin Prof. Dr. C. Katharina Spieß sowie BiB-Forschungsdirektor PD Dr. Martin Bujard beteiligt.
Welche Bedeutung die Ausprägung sozio-emotionaler Fähigkeiten durch die Schule und das Elternhaus für die Entwicklung von Kindern hat, ist gerade während der Pandemie bewusst geworden, als im Zuge von Lockdowns Kitas und Schulen zum Teil länger geschlossen waren und damit wichtige soziale Kontexträume für die Heranwachsenden fehlten, betonte der Direktor des Direktorats für Bildung bei der OECD, Andreas Schleicher.
Neue OECD-Studie über sozio-emotionale Fähigkeiten
Er präsentierte Ergebnisse einer neuen OECD-Studie, die sich mit der Herausbildung sozio-emotionaler Fähigkeiten im Kinder- und Jugendalter beschäftigt. Darin wurden diese nicht nur gemessen, sondern auch die Kontexte wie Schule oder Elternhaus miteinbezogen, in denen diese Kompetenzen erworben werden.
In der Erhebung wurden Informationen über sozio-emotionale Fähigkeiten von je 3.000 10- und 15-jährigen Schülerinnen und Schülern aus verschiedenen Städten gesammelt und ausgewertet. „Soziale und emotionale Kompetenzen sind nicht nur für sich genommen wichtig, sondern auch wichtige Prädiktoren für die Schulnoten in verschiedenen Altersgruppen, Fächern und Städten“, betonte Schleicher. So zeigen die Daten beispielsweise, dass Schülerinnen und Schüler mit den besseren sozio-emotionalen Kompetenzen meist auch bessere Noten bekommen. „Bei den 15-Jährigen sehen wir zum Beispiel einen Zusammenhang zwischen der eigenen Ausdauer und besseren Noten in Mathematik.“ Dies gilt auch für Schülerinnen und Schüler, die mehr Vertrauen in andere Menschen haben.
Beim Vergleich der befragten Altersgruppen fällt auf, dass im Durchschnitt 15-jährige Schülerinnen und Schüler über ein niedrigeres Niveau bei fast allen sozialen und emotionalen Fähigkeiten verfügen wie 10-jährige. „Bei den Mädchen fällt dieser Unterschied noch viel stärker aus als bei Jungen“, sagte der OECD-Bildungsexperte. „Hinzu kommt, dass Schülerinnen und Schüler aus einem sozioökonomisch günstigeren Umfeld dazu neigen, über höhere soziale und emotionale Fähigkeiten zu verfügen als jene im unteren Viertel des sozioökonomischen Status.“ Insbesondere der Faktor Kreativität spielt eine wichtige Rolle: „Jene, die über ein höheres Maß an Kreativität verfügen, weisen auch ein höheres Level an anderen sozio-emotionalen Fähigkeiten auf.“
Welche große Bedeutung die Schule in diesem Zusammenhang hat, belegt auch die Aussage, dass die Mehrheit der Befragten angibt, dass sie sich in der Schule zugehörig fühlen. Dies ist insofern bedeutsam, als ein hohes Zugehörigkeitsgefühl von Schülerinnen und Schülern als ein Indikator für höhere soziale und emotionale Kompetenzen angesehen wird.
Aktuelle BiB-Studie: Zunahme depressiver Symptome bei Jugendlichen
Welche Folgen die Kita- und Schulschließungen für Kinder, Jugendliche und Eltern in der Corona-Pandemie hatten, zeigte BiB-Wissenschaftler PD Dr. Martin Bujard auf der Basis einer kürzlich veröffentlichten Studie des BiB über die Belastungen von Kindern, Jugendlichen und Eltern in der Corona-Pandemie. So waren insbesondere bei den Jugendlichen die gesundheitlichen Belastungen sehr groß. Bei den depressiven Symptomen der 16- bis 19-Jährigen ist ein deutlicher Anstieg zwischen der Zeit vor und während der Pandemie zu erkennen: „Der Anteil der Jugendlichen mit klinisch relevanten depressiven Symptomen ist von 10 Prozent vor der Pandemie auf 25 Prozent angestiegen und hat sich somit mehr als verzweieinhalbfacht“, sagte Dr. Bujard. Dabei hat sich der Anstieg bei den Mädchen sogar verdreifacht.
Rechnet man den Anstieg hoch auf die Zahl der betroffenen Kinder, so ist nach einer Selbsteinschätzung (aber keiner ärztlichen Diagnose) von einer Zunahme von 477.000 Kindern mit klinisch depressiven Symptomen auszugehen. Allerdings ist zu vermuten, dass es sich hier eher um eine Episode handelt und nicht um dauerhafte Erkrankungen, so der Wissenschaftler. Dies hängt im Wesentlichen davon ab, wie die Jugendlichen nach der Pandemie wieder in ihre Routinen von Vorpandemiezeiten zurückfinden.
Besonders betroffen war die Gruppe der Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen oder von einer anderen Muttersprache geprägten Familien. „Diese Gruppe von ca. 24 Prozent war besonders abgehängt und hatte unter dem Lockdown besonders zu leiden.“ Die zentrale Rolle spielte dabei vor allem die verordnete soziale Isolation, die zu psychischen Belastungen geführt hat. „Aus meiner Sicht kann man aber nicht von einer „lost generation“ sprechen. Es gibt aber etwa ein Drittel Jugendlicher, die auch nach dem Lockdown große Probleme haben“, betonte der Wissenschaftler. Bei der Bewältigung der erlittenen Defizite in der Post-Corona-Phase warnte er davor, nur das Aufholen von Lernrückständen in den Mittelpunkt zu stellen. Viel wichtiger ist vielmehr die Einbindung in soziale Beziehungen etwa mit dem Freundeskreis, in der Schule oder im Sportverein.
Wohlbefinden der Schüler hat gelitten im Lockdown
Dass es zu einem Einbruch der Lebenszufriedenheit der Schülerinnen und Schüler im Zuge der Pandemie gekommen ist, konnte auch Malte Sandner vom IAB bestätigen. Untersuchungen von ihm und anderen IAB-Kollegen über die Abiturientenjahrgänge 2020 und 2021 zu ihrem Wohlbefinden vor und während der Pandemie haben einen Einbruch der Lebenszufriedenheit gezeigt, aber: „Kurz nach den Schulschließungen verbesserte sich das Wohlbefinden überraschenderweise, langfristig ist es dann stark gesunken“, betonte Sandner. Besonders bei den Kindern, die nicht mehr zur Schule gehen konnten, kam es zu einem Einbruch. Eine besonders starke Korrelation zeigte sich dabei mit der Berufsentscheidung: „Diejenigen, die die Schule verlassen haben, waren weniger zufrieden mit ihrer Entscheidung, wenn sie einen starken Einbruch ihres Wohlbefindens hatten. Diejenigen, die noch in der Schule sind, sind weniger zuversichtlich, was ihre berufliche Zukunft angeht und dementsprechend stark verunsichert.“
Dabei sind Schülerinnen und Schüler mit hoher sozialer Kompetenz am besten in der Lage, den Zusammenhang zwischen der Qualität der Beziehung zwischen Lehrern und Schülern sowie zwischen Schülern für sich und ihre Zwecke zu nutzen, wie Prof. Dr. Dr. Diana Raufelder (Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Greifswald) betonte. Deshalb sind soziale Beziehungen vor allem zwischen den Lehrern und Schülern von großer Bedeutung für die Ausbildung sozio-emotionaler Fähigkeiten, die sich wiederum auf das Wohlbefinden auswirken.
Stärkung der frühkindlichen Bildung bereits in der Kita
Zur Ausbildung stabiler sozio-emotionaler Kompetenzen der Kleinen spielt aus Sicht der Direktorin des BiB, Prof. Dr. C. Katharina Spieß, die soziale Interaktion zwischen Eltern, pädagogischen Fachkräften und Kindern gerade in der frühen Kindheit eine entscheidende Rolle. Sie plädierte für eine Stärkung der frühkindlichen Bildung bereits in den Kitas, um so diese Kompetenzen zu stärken. „Wir müssen in der Kita die Bildungspläne noch stärker auf die Förderung frühkindlicher sozio-emotionaler Kompetenzen ausrichten, um so auch benachteiligten Kindern eine Chance zu geben“, so die Bildungsökonomin. Das ist auch deshalb sinnvoll und notwendig, da viele Studien zeigen, dass es weniger Ressourcen bedarf, frühkindlich Fähigkeiten auszubauen als später. Es muss darum gehen, den Bildungsanspruch der Kita umzusetzen. Bildungsungleichheiten fangen ja bereits sehr früh an, sie können durch professionelle frühkindliche Bildung und Betreuung abgebaut werden. Dafür bedarf es neben hervorragend ausgebildeten Erziehern und Lehrern in Kitas und Schulen auch eines Systems, in dem die Möglichkeit besteht, auch Neues auszuprobieren. Hier sind zielgerichtete Ansätze, die das familiale Umfeld mitdenken und die Eltern mitnehmen, wichtiger und effizienter als flächendeckende Ansätze, die nicht die Zielgruppen im Blick haben, welche den größten Unterstützungsbedarf haben, betonte Prof. Dr. Spieß.
Eltern sorgen sich gleichermaßen um Bildung und Gesundheit ihrer Kinder
Die Folgen der Pandemie haben nicht nur bei den Jugendlichen Spuren hinterlassen, sondern auch das Wohlbefinden der Familie durch große Herausforderungen massiv beeinflusst. Prof. Dr. C. Katharina Spieß machte dazu deutlich, dass die Zufriedenheit von Eltern mit der Kinderbetreuung, dem Familienleben, der Wohnsituation sowie dem Leben allgemein zwischen November 2020 und Januar 2021 weiter gesunken ist. Dabei ist die Zufriedenheit auch abhängig von der Bildung der Eltern.
Aktuelle „Compass-Daten“ von infratest dimap zeigen zudem, dass sich mehr als die Hälfte der Väter und Mütter im Januar 2021 große Sorgen vor allem um die Bildung ihrer Kinder, die wirtschaftliche Zukunft sowie die Gesundheit ihres Kindes machte. Dabei spielt auch der Bildungsstand der Eltern eine Rolle: „Die Wahrscheinlichkeit, sich große Sorgen um die Bildung der Kinder zu machen, ist bemerkenswerterweise sogar sehr viel höher für Eltern ohne Abitur und zwar um 16 Prozentpunkte“, analysierte Prof. Dr. Spieß. Dabei sorgen sich die Mütter noch mehr als Väter um die Bildung, die wirtschaftliche Zukunft und die Gesundheit der Kinder. Eltern mit Abitur und einem höheren Haushaltseinkommen machen sich hingegen weniger Sorgen in diesen Bereichen. Für die Politik, die sich an den Sorgen der Menschen orientiert, bedeutet dies, insbesondere die stark besorgten Eltern mitzunehmen, wenn es darum geht, aufzuholen oder durch die Pandemie Versäumtes nachzuholen.
Funktioniert das System Schule noch?
Aus der Sicht der Schulpraxis wies die ehemalige Lehrerin Margret Rasfeld von der Initiative „Schule im Aufbruch“ darauf hin, dass in unserer Leistungsgesellschaft im System Schule ihrer Meinung nach einiges nicht mehr stimmt. „Uns geht es schon lange nicht mehr um die Kinder“, betonte sie. Sie plädierte daher für eine Transformation des Schulwesens, zu dem auch mehr Raum für ein engeres Lehrer-Schüler-Verhältnis gehört. Es muss darum gehen, wieder ein Zugehörigkeitsgefühl zur Schule herzustellen – auch durch das Entschlacken von Lehrplänen.
Dass es an Schulen zunehmende Mobbingprobleme gibt, zeigt aus ihrer Sicht deutlich, dass etwas in Schule und Gesellschaft nicht mehr funktioniert. Eine wachsende Heterogenität der Schülerschaft muss auch bei der Lehrerbildung mitberücksichtigt werden, denn: „Schulen sind der Seismograph der Gesellschaft und zeigen an, wenn etwas schiefläuft oder verändert werden muss“, so Rasfeld.