Research Handbook on the Sociology of the Family • 02.07.2021Zum aktuellen Stand der europäischen Familiensoziologie
Das neue Handbuch gibt einen Überblick über aktuelle Veränderungsprozesse der Familie. Der tiefgreifende Wandel der Familie in Europa in den letzten Jahrzehnten hat die Familienforschung in vielerlei Hinsicht inspiriert: Neue Theorien, innovative Methoden und die Erschließung und Nutzung ganz neuer Daten schaffen neue Perspektiven für die europäische Familiensoziologie. Dabei stehen sowohl klassische als auch neue und innovative Themen im Fokus des Bandes, der vom Direktor des BiB, Prof. Dr. Norbert F. Schneider, sowie von Michaela Kreyenfeld, Professorin für Soziologie an der Hertie School in Berlin, herausgegeben wird.
Beim Wandel der Familie in Europa bestimmen einige Megatrends die Entwicklung, etwa der teilweise rasche Anstieg der Geburten außerhalb der Ehe, gleichzeitig verfestigen sich bestehende Unterschiede in den europäischen Regionen. Welche Folgen diese Veränderungen des Forschungsgegenstandes Familie für das familiensoziologische Forschungsinteresse bewirkt haben, zeigt das Handbuch, an dem 41 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus über 10 Ländern mitgewirkt haben. Darunter sind auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem BiB.
Verbindung von klassischen und neuen Forschungsansätzen
Im Band werden sowohl klassische Themen wie der Wandel der Lebensformen oder die Familienbeziehungen als auch neue und innovative Ansätze vorgestellt. Dazu zählt zum Beispiel die Einbindung der Folgen der Reproduktionsmedizin in familiensoziologische Fragestellungen.
Das Buch ist in acht Teile gegliedert, wobei die ersten drei neben einer Einführung einen Überblick über klassische und neue theoretische Ansätze in der Familiensoziologie liefern. Teil 4 widmet sich der wachsenden Vielfalt der Familie im Verlauf ihrer Entwicklung, Teil 5 betrachtet Familienübergänge im Lebenslauf, während in Teil 6 intime und intergenerationale Beziehungen in der Familie im Fokus stehen. Neue Einblicke in die Verteilung der Hausarbeit und der Vereinbarkeitsproblematik in der Familie liefern die Analysen in Teil 7. In Teil 8 rückt die Einbeziehung der Familie in den gesellschaftlichen Kontext in den Blick. Hier werden Themen wie die Regelung von medizinisch assistierter Reproduktion, Armut von Kindern oder die Organisation eines Familienlebens über Ländergrenzen hinweg behandelt.
Vom „being family“ zum „doing family“
„Wir beobachten seit längerer Zeit eine Veränderung der „Idee“ von Familie sowie eine Erweiterung des Familienbegriffs“, betont der Mitherausgeber des Bandes, Familiensoziologe Prof. Dr. Norbert F. Schneider. So wird Familie heute nicht mehr nur als die klassische Kernfamilie mit Mutter, Vater und Kindern verstanden („being family“), sondern als Lebensform, die je nach individueller Lebensweise gestaltet und auf vielfältige Weise gelebt werden kann („doing family“). Die weitgehend statische Sichtweise von Familie als Strukturform hat sich in der Forschung zugunsten der Wahrnehmung eines dynamischeren Entwicklungsverlaufs weiterentwickelt.
Rasante Fortschritte in der Methodik, aber nicht in der Theorie
Diesen Trends hat auch die europäische Familiensoziologie Rechnung getragen, wie in den 27 Beiträgen deutlich wird. Dabei wirken sich vor allem Weiterentwicklungen der Methoden sowie Fortschritte bei der Verfügbarkeit und Qualität der Daten förderlich auf die Forschungsarbeit aus. „Die bessere Nutzbarkeit von großen Datenmengen durch neue Erhebungs- und Analysemethoden hat ganz neue Möglichkeiten für vergleichende Studien mit vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern geschaffen“, sagt Prof. Dr. Schneider. Dazu hat nicht zuletzt die Etablierung von onlinegestützten Erhebungen beigetragen, die günstig und schnell durchgeführt werden können und klassische Erhebungsmethoden wie beispielsweise „face-to-face“-Surveys zunehmend verdrängen. Während sich die Entwicklung der Methodik in rasantem Tempo vollzieht, fehlt es allerdings vielfach an der begleitenden Theoriefundierung. Zudem wird die Bedeutung von Designs, die nicht nur einen, sondern mehrere Akteure im Familienumfeld in empirische Fragestellungen einbeziehen, bisher nur teilweise erkannt und angewendet. Nötig ist, so ein Fazit des Bandes, eine stärkere dyadische Orientierung und eine noch stärkere Einbeziehung der Lebenslaufperspektive in die Familienforschung.
Interdisziplinarität der Familienforschung ist ein Gewinn
Darüber hinaus hat sich für die Weiterentwicklung der Familiensoziologie auch die Einbeziehung anderer Disziplinen und Forschungsbereiche, wie zum Beispiel der Familiendemografie sowie der Alterungs- oder Gesundheitsforschung, als gewinnbringend erwiesen. Diese Interdisziplinarität kann dazu beitragen, vorhandene Forschungslücken zu schließen. Dazu zählen zum Beispiel die Beziehungen der Familienmitglieder zueinander (Onkel, Tanten, Geschwister) oder die Situation der Familienmitglieder in Trennungsfamilien. Darüber hinaus wird die Perspektive der Kinder an Bedeutung gewinnen. Vor dem Hintergrund einer älter werdenden Gesellschaft sind auch die Generationenbeziehungen im Alter ein wichtiger werdender Forschungsgegenstand. Im Zuge des weltweiten Migrationsgeschehens wird zudem das Thema Migration und Familie künftig stärker beachtet werden müssen, insbesondere im Hinblick auf transnationale Familienbeziehungen über Landesgrenzen hinweg.
Insgesamt belegen die Beiträge, wie sehr die vergleichende Forschung (comparative family research) in den letzten Jahren auch in einer internationaler ausgerichteten Familiensoziologie mittlerweile an Bedeutung gewonnen und zu einem besseren Verständnis von Wandel und Situation der Familie in Europa geführt hat.
Das Handbuch richtet sich an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Studierende der Soziologie, Demographie, Familien- und Geschlechterpolitik. Sicherlich kann es auch für Praktikerinnen und Praktiker sowie politische Expertinnen und Experten in diesen Bereichen von Nutzen sein.
Schneider, Norbert F.; Kreyenfeld, Michaela (Hrsg.) (2021): Research Handbook on the Sociology of the Family (Research Handbooks in Sociology series). Edward Elgar Publishing Ltd.