Beiträge zur Bevölkerungswissenschaft, Band 54 | 26.10.2020Die Geburt des dritten Kindes
In ihrer Dissertation untersucht BiB-Wissenschaftlerin Dr. Ralina Panova am Beispiel von vier europäischen Ländern, welche Faktoren Eltern dazu ermutigen, ein drittes Kind zu bekommen. Eine wichtige Rolle spielen dabei soziokulturelle Faktoren und die Familienkultur des jeweiligen Landes.
Der Rückgang der Zahl kinderreicher Familien in Europa ist (neben der wachsenden Kinderlosigkeit) ein entscheidender Grund für das anhaltend niedrige Fertilitätsniveau in den meisten europäischen Ländern. Trotz allem gibt es nach wie vor Paare, die sich für mehr als zwei Kinder entscheiden und damit vom gesellschaftlich verbreiteten Ideal abweichen - nicht nur in Deutschland. Warum entscheiden sie sich für ein drittes Kind? Welche zentralen Einflussfaktoren spielen hier eine Rolle?
Diese Fragen stehen im Fokus der Untersuchung von Dr. Ralina Panova. Sie hat bestimmte Merkmale der Kinderreichen festgestellt und die unterschiedlichen Einflussfaktoren auf die Geburt eines dritten Kindes, wie zum Beispiel soziokulturelle und -ökonomische Faktoren, in vier Ländern - Westdeutschland, Frankreich, Bulgarien und Ungarn - analysiert. Dabei hat sie erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern, aber auch Gemeinsamkeiten, festgestellt. Im Interview äußert sie sich zu zentralen Befunden ihrer Arbeit.
Frau Dr. Panova, gibt es bestimmte Merkmale kinderreicher Familien? Wer sind eigentlich die Kinderreichen?
Meine Befunde zeigen, dass kinderreiche Familien im Vergleich zu Kinderlosen und Personen mit weniger als drei Kindern in vielerlei Hinsicht eine besondere Gruppe darstellen. Kinderreiche weisen einige typische Merkmale auf, die sie von den beiden genannten Gruppen signifikant unterscheiden: So kommen Kinderreiche deutlich häufiger selbst aus einer kinderreichen Familie. Sie fangen früher mit der Familiengründung an als Paare mit weniger Kindern. Zudem sind Eltern dreier Kinder häufiger verheiratet, im Durchschnitt niedriger gebildet und seltener erwerbstätig im Vergleich zu Eltern mit einer geringeren Kinderzahl. Über die untersuchten Länder betrachtet sind sie aus deskriptiver Sicht im Hinblick auf die subjektive Einschätzung der Haushaltseinkommenssituation zwar ökonomisch nicht schlechter gestellt. Allerdings zeigen meine multivariaten Analysen etwas anderes: So hängt über alle vier Länder hinweg eine ungünstige soziale Lage nicht unbedingt positiv mit dem Übergang zum Kinderreichtum zusammen. Während eine mittelmäßige wirtschaftliche Situation sowie Nicht-Erwerbstätigkeit mit höherer Wahrscheinlichkeit für ein drittes Kind verbunden sind, scheint das Bildungsniveau nicht signifikant mit einer weiteren Geburt verbunden zu sein.
Unterschiede gibt es bei den Geschlechtern vor allem in Bezug auf die Erwerbsbeteiligung: Mit der Anzahl der Kinder sinkt auch der Erwerbstätigenanteil bei den Frauen. Dagegen sind kinderreiche Männer ähnlich häufig erwerbstätig wie Väter mit weniger Kindern.
Welche Einflussfaktoren wirken sich auf die Entscheidung für ein drittes Kind in den untersuchten Ländern aus?
Hier sind an erster Stelle die soziokulturellen Faktoren zu nennen. Sie sind das entscheidende Schlüsselelement zur Erklärung des Übergangs zum dritten Kind. Dazu zählen soziale Normen, sozialer Druck, der Wertnutzen von Kindern oder subjektive Opportunitätskosten, also ein entgangener Nutzen aus der Nichtwahrnehmung bestimmter vorhandener Möglichkeiten. Aber auch die intergenerationale Transmission, also die Vererbung von Verhaltensweisen und Einstellungen der Eltern zu ihren Kindern, muss hier mit einbezogen werden.
Zudem zeigen die Ergebnisse spannende Geschlechterunterschiede: Während der soziale Druck für Frauen und Männer gleichermaßen bedeutsam ist, sind subjektive Kosten für Mütter tendenziell wichtiger als für Väter. Ein höherer emotionaler und sozialer Wert eines weiteren Kindes ist bei Müttern, nicht aber bei Vätern, zu höherer Wahrscheinlichkeit mit dem Übergang zum dritten Kind verbunden. Die Anzahl der eigenen Geschwister ist für Männer hingegen wichtiger als für Frauen.
Gibt es unterschiedliche Einflüsse in den vier Ländern?
Ja. Soziokulturelle Faktoren wirken sich in den einzelnen Ländern unterschiedlich aus. Besonders in Frankreich sind sie beispielsweise neben einer Scheidung oder der Geschlechterzusammensetzung der vorhandenen eigenen Kinder für den Übergang zum dritten Kind entscheidend. Nur in diesem Land spielt dazu der emotionale und soziale Wert von Kindern eine entscheidende Rolle für die Geburt eines dritten Kindes.
In Deutschland scheint neben dem sozialen Druck vor allem der Faktor „intergenerationale Transmission“ eine wichtige Rolle zu spielen. Dagegen sind in Ungarn niedrige subjektive Opportunitätskosten sowie als hoch empfundene Erwartungen aus dem eigenen sozialen Umfeld mit entscheidend. Ein niedriger Bildungsstand sowie ein Migrationshintergrund wirken sich wiederum in Bulgarien förderlich für ein drittes Kind aus.
Meine Befunde belegen insgesamt, dass in allen Ländern vor allem sozialer Druck eine signifikante Rolle für die Geburt des dritten Kindes spielt. Das bedeutet, dass bei Eltern zweier Kinder, die hohen sozialen Druck aus ihrem Umfeld für ein weiteres Kind wahrnehmen, die Geburt eines dritten Kindes wahrscheinlicher wird - verglichen mit einer Gruppe von Eltern mit niedrigen wahrgenommenen Erwartungen aus dem sozialen Umfeld. Insgesamt ist der soziale Druck der einzige Faktor, der in allen vier Ländern eine bedeutsame Signifikanz aufweist. Mit meinen Resultaten bestätigt sich demnach, dass soziale Normen in postmodernen Gesellschaften wichtig für das Entstehen von Kinderreichtum sind.
Gibt es Befunde, die Sie so nicht erwartet haben?
Ein sehr interessanter Befund, der auf den ersten Blick überraschend erscheint, bezieht sich beispielsweise auf den Einfluss des Familienmodells der Herkunftsfamilie. Das ist der vorhin angesprochene Faktor „intergenerationale Transmission“: Eltern zweier Kindern, die ohne Geschwister sozialisiert wurden, entscheiden sich mit höherer Wahrscheinlichkeit für eine kinderreiche Familie, verglichen mit Eltern, die aus Zwei-Kind-Familien kommen. Blickt man tiefer in die Theorie zur intergenerationalen Transmission, lässt sich dieser Effekt mit einer Ablehnungshaltung junger Erwachsener gegenüber der erlebten Familienstruktur erklären. Demnach kann ein Modell der Herkunftsfamilie, das von den Kindern als belastend und/oder gesellschaftlich wenig akzeptiert wahrgenommen wird, später bewusst abgelehnt und ein anderes Lebensmodell angestrebt werden. In der Empirie äußert sich dieser Einflussmechanismus in Unterschieden im Fertilitätsverhalten von Eltern und ihren Kindern. Dies könnte das Anstreben von Einzelkindern nach einer großen Familie erklären.