Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung

Interview zur BiB-Studie • 02.07.2019„Kinderreichtum ist heute ein Phänomen der Mittelschicht“

In den letzten Jahrzehnten haben sich immer weniger Elternpaare in Deutschland für drei und mehr Kinder entschieden. Damit haben sie einen wesentlichen Anteil am langjährigen Geburtenrückgang. Dr. Martin Bujard äußert sich zu den Merkmalen sowie der Verbreitung kinderreicher Familien. Dabei widmet er sich auch der Frage, wie die Familienpolitik die Entscheidung für drei und mehr Kinder erleichtern kann.

Zeichnung einer kinderreichen Familie Quelle: Kidaha/pixabay

Herr Dr. Bujard, im Jahre 1975 hatte etwa jede vierte Familie drei oder mehr Kinder. In den letzten Jahrzehnten hat sich dieser Anteil auf mittlerweile etwa 16 Prozent eingependelt. Worin liegen Ihrer Meinung nach die wichtigsten Ursachen für diesen Rückgang?

Zunächst einmal ist der Rückgang des Anteils von Familien mit drei oder mehr Kindern der maßgebliche demografische Treiber für den Geburtenrückgang in Deutschland. Die Ursachen für die Abnahme sind vielschichtig. Lassen Sie mich drei Hauptgründe nennen: Es hat sich ein gesellschaftliches Leitbild der Zwei-Kind-Familie etabliert, durch das mehr als zwei Kinder als abweichende Norm wahrgenommen werden. Dies führt nicht selten zu einer Art von Stigmatisierung von kinderreichen Familien. Ihre gesellschaftliche Anerkennung ist geringer als in Frankreich oder den USA. Zweitens sind Wohnraum, Urlaubsangebote und viele Kleinigkeiten des alltäglichen Lebens auf zwei Kinder eingestellt, so dass Familien mit mehr Kindern öfters auf Hindernisse stoßen. Zudem möchten in einer weitgehend individualisierten Gesellschaft die Menschen mehr Zeit für sich selber haben und verteilen die knappen Ressourcen Zeit, Geld und Empathie lieber intensiver auf weniger Kinder. Darüber hinaus werden aber in der Familienforschung weitere Ursachen diskutiert.

Welche sozialstrukturellen Merkmale zeichnen heute Familien mit 3 oder mehr Kindern aus?

Unsere Befunde zeigen ganz klar, dass Kinderreichtum als ein Phänomen der Mittelschicht betrachtet werden kann. Die häufig gefundene Unterstellung, dass kinderreiche Familien besonders ein Phänomen gering Gebildeter sind, lässt sich aufgrund der gestiegenen Bildungsniveaus in so absoluter Weise nicht mehr formulieren. Denn wenn man die gesamte Gruppe der Kinderreichen betrachtet, stellt man fest, dass fast drei Viertel eine mittlere oder hohe Bildung aufweisen. Zutreffend ist allerdings nach wie vor, dass der Anteil an kinderreichen Personen unter den gering Gebildeten und bei Migranten aus muslimisch geprägten Herkunftsländern im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen deutlich höher ist.

In unserer Studie haben wir auch die Unterschiede nach Geschlecht im Zusammenhang mit Bildung betrachtet. Dabei hat sich gezeigt, dass Kinderreichtum besonders bei hochgebildeten Männern deutlich stärker verbreitet ist als bei hochgebildeten Frauen.

Wo steht Deutschland im internationalen Vergleich im Hinblick auf den Anteil der kinderreichen Familien? Welche Länder sind besonders kinderreich?

Im europäischen Vergleich bewegt sich Deutschland mit rund 16 Prozent im unteren Mittelfeld. Durchweg höhere Anteile kinderreicher Frauen zeigten sich in den skandinavischen Ländern Norwegen mit 33 Prozent, Finnland mit 29 Prozent und Schweden mit 27 Prozent. Dies gilt auch für die angelsächsischen Staaten wie England mit 28 Prozent und Irland mit 36 Prozent. Dagegen finden sich niedrigere Anteile kinderreicher Frauen vor allem in Südeuropa. Zum Beispiel liegt der Anteil in Portugal bei 15 Prozent, in Italien bei 12 Prozent und in Spanien bei 11 Prozent. Das Klischee der weit verbreiteten italienischen Großfamilie trifft schon lange nicht mehr zu. Bei den osteuropäischen Ländern haben wir kein einheitliches Muster erkennen können. Hier gibt es starke Schwankungen.

Ihre Studie hat erstmals für Deutschland Kinderreichtum auf der regionalen Ebene berechnet und dabei grundlegende Unterschiede festgestellt. Wo liegen die Ursachen?

Die Differenzen sind in der Tat erheblich, wie unsere Auswertungen für die rund 400 Städte und Landkreise belegen. So gibt es einige Regionen mit einer relativ weiten Verbreitung von kinderreichen Familien von 20 bis 25 Prozent, das vergleichbar ist mit manchen Regionen in Frankreich oder den Niederlanden. Dies gilt etwa für den Westen Niedersachsens, den Norden Nordrhein-Westfalens, das Allgäu und mehrere Regionen Baden-Württembergs. Dagegen fanden sich auch viele Regionen mit sehr geringen Anteilen. Dazu zählen etwa mehrere ländliche Kreise in Südthüringen, Ostbrandenburg und Sachsen-Anhalt mit Anteilen zwischen 7 und 10 Prozent. Insgesamt ist der Anteil kinderreicher Familien in ländlichen Gegenden höher als in Großstädten und in Westdeutschland höher als in Ostdeutschland.

Nach den uns vorliegenden Befunden ist die Verbreitung von Kinderreichtum in erster Linie weniger eine Folge der materiellen Lebensumstände, sondern muss im Zusammenhang mit kulturellen Mustern und der regionalen Infrastruktur gesehen werden. Von großer Bedeutung ist auch die Wohnraumsituation: So sind kinderreiche Familien besonders dort selten anzutreffen, wo es kein Angebot an großen Wohnungen gibt, die Platz für ein drittes oder viertes Kinderzimmer haben.

Welche Möglichkeiten hat die Politik, Mehrkindfamilien besser zu unterstützen?

Die Familienpolitik hat Kinderreichtum in Deutschland bisher nicht gezielt gefördert. Damit steht die große Bedeutung kinderreicher Familien für die Sozialisation der Kinder und die demografische Nachhaltigkeit in deutlichem Kontrast zu ihrem Stellenwert in Politik und Gesellschaft. Die Studie zeigt, dass die festgestellte enorme Vielfalt der Lebenslagen und Lebensumstände von Kinderreichen von der Familienpolitik stärker gefördert und gezielter Unterstützung angeboten werden sollte.

Was sind die Ursachen für die geringe Zahl an Kinderreichen? Kann denn die Politik die Entscheidung für ein drittes Kind erleichtern?

Der geringe Anteil der Kinderreichen hat keine rein ökonomischen Ursachen, hier geht es vielmehr um Fragen der Kultur und der Infrastruktur. Die Zwei-Kind-Norm ist gesellschaftlich gewachsen und lässt sich nur schwer ändern. Allerdings wünschen sich viel mehr junge Menschen ein drittes Kind als tatsächlich realisiert wird. Hier kann die Politik helfen. So spielt die Möglichkeit der beruflichen Teilhabe gerade bei kinderreichen Familien eine große Rolle. Hier müssen auch die spezifischen Zeitbedarfe kinderreicher Eltern miteinbezogen werden. Auch die regionalen Lebensverhältnisse für Familien in der Kommune sind wichtig. Und nicht zuletzt ist auch die Schaffung von Wohnraum für große Familien ein entscheidender Faktor, damit sich wieder mehr Paare für viele Kinder entscheiden.

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