Reformbedarf bei rechtlicher Regelung | 05.06.2019Fortpflanzungsmedizin in Deutschland
Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und der Union der deutschen Akademie der Wissenschaften hat eine umfassende Stellungnahme zu diesem Thema veröffentlicht. Auch das BiB war durch Dr. Martin Bujard an diesem Prozess beteiligt. Dabei analysierte das Forscherteam in den vergangenen Jahren die medizinischen, rechtlichen, sozialwissenschaftlichen und ethischen Fragen zur Fortpflanzungsmedizin und entwickelte Handlungsempfehlungen.
Bereits seit 40 Jahren können ungewollt kinderlose Paare in Deutschland Hilfe der Reproduktionsmedizin in Anspruch nehmen, um ihre Kinderwünsche zu erfüllen. Die derzeitige rechtliche Grundlage für reproduktionsmedizinische Behandlungen ist das Embryonenschutzgesetz von 1990. Seither wurden neue diagnostische und therapeutische Maßnahmen zur Kinderwunschbehandlung entwickelt. Hinzu kommt, dass die Vielfalt der Familienformen zugenommen hat. Daher fordern die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihrer Stellungnahme eine neue Regelung der Voraussetzungen, Verfahren und Folgen der Fortpflanzungsmedizin, die die gesellschaftlichen Entwicklungen und technischen Neuerungen der letzten Jahrzehnte berücksichtigt.
Finanzierung der Kinderwunschbehandlung unabhängig vom Familienstand
Die gesellschaftlichen Vorstellungen von Ehe und Familie haben sich in den vergangenen 25 Jahren gewandelt. Seit 1996 hat sich der Anteil der nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern (ohne Alleinerziehende) bezogen auf alle Familien mit Kindern mehr als verdoppelt auf 8,4 Prozent. Die Ehe wird nicht mehr als Voraussetzung dafür gesehen, Kinder zu bekommen. Dies belegen auch Befragungen des BiB von jungen Erwachsenen im Rahmen der Langzeitstudie „Familienleitbilder in Deutschland“. Hier zeigt sich, dass sich der Familienbegriff eher am Vorhandensein von Kindern als am Bestehen einer Ehe orientiert. 97,4 Prozent der Befragten sehen unverheiratete Paare von Mann und Frau, die mit Kindern zusammenleben, als Familie an. Ein kinderloses Ehepaar wird dagegen nur von 68,4 Prozent als Familie eingestuft.
Dazu passt aus Sicht der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht, dass die Voraussetzung für eine Finanzierung der Kinderwunschbehandlung an den Familienstand geknüpft ist. Finanzielle Unterstützung von der gesetzlichen Krankenversicherung erhalten in der Regel nur verheiratete Paare. Darüber hinaus gibt es Altersgrenzen.
Vor diesem Hintergrund plädieren die am Arbeitsgruppenprozess beteiligten Forscher für eine angemessene Finanzierung der Kinderwunschbehandlung bei medizinischer Indikation unabhängig von Familienstand und Alter. Ein Aspekt, der laut der Arbeitsgruppe bei einem zukünftigen Fortpflanzungsmedizingesetz berücksichtigt werden sollte.
In den Empfehlungen finden sich auch Themen wie die Anpassung der Wahrung des Kindeswohls, die psychosoziale und rechtliche Beratung und die Wahrung des Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung. Darüber hinaus wird die Verbesserung des rechtlichen Rahmens entsprechend internationalen Standards für spezielle fortpflanzungsmedizinische Techniken gefordert. Hierzu zählen zum Beispiel die Eizellspende, die Embryospende oder die Leihmutterschaft.
BiB-Forschung zu Kinderlosigkeit und Reproduktionsmedizin
Dr. Martin Bujard, Leiter des Forschungsbereichs Familie und Fertilität am BiB, brachte im Arbeitsgruppenprozess die wissenschaftliche Expertise des Instituts zur Kinderlosigkeit in Deutschland ein. Grundsätzlich ist die Kinderlosigkeit in den letzten Jahrzehnten angestiegen, ein weiterer Anstieg ist allerdings nicht zu erwarten. Aktuell liegt die Kinderlosenquote bei den Ende der 1960er Jahre geborenen Frauen bei rund 20 Prozent. Bei Akademikerinnen ist die Kinderlosigkeit besonders hoch. Westdeutschland hat im internationalen Vergleich eine der höchsten Quoten. Das Projekt „Kinderlosigkeit“ am BiB untersucht die Hintergründe von dauerhafter Kinderlosigkeit auch unter Berücksichtigung von bestimmten Entwicklungen im Lebenslauf.
Dabei spielt auch die Reproduktionsmedizin in der Familienplanung eine zunehmend wichtigere Rolle. Aktuell gibt es in Deutschland pro Jahr über 100.000 reproduktionsmedizinische Behandlungen. Die Nutzung der Reproduktionsmedizin steigt stetig. Ein Grund: Geburten werden immer häufiger bis in das vierte Lebensjahrzehnt aufgeschoben. Dies ist ein Alter, in dem häufig Fertilitätsprobleme auftreten. Der Beitrag der Reproduktionsmedizin zur Gesamtgeburtenrate ist mit 2,8 Prozent aller Geburten momentan aber noch relativ gering.
BiB-Tagung zu Reproduktionsmedizin
Im September organisiert das BiB vertreten durch Dr. Jasmin Passet-Wittig gemeinsam mit der Universität Duisburg-Essen eine wissenschaftliche Konferenz zu den Ursachen, Erfahrungen und Folgen von assistierten Reproduktionstechniken (ART). Anmeldungen sind noch bis zum 30. Juni 2019 möglich.