Interview zur Todesursachenforschung • 15.03.2019„Theoretisch keine evidente Grenze bei der Lebenserwartung“
Im Rahmen des IUSSP-Seminars „Lifespan Extension with Varying Cause-of-Death Trajectories in European Societies” Mitte Februar im hessischen Rauischholzhausen diskutierten internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Zusammenhang zwischen der relativ gleichförmigen Verlängerung der Lebenserwartung und sehr unterschiedlichen Todesursachenprofilen in europäischen Gesellschaften. Der Leiter der Forschungsgruppe Mortalitäts-Follow-Up der NAKO Gesundheitsstudie am BiB, Prof. Dr. Dr. med. Ulrich Mueller, erklärt die Bedeutung der Todesursachenforschung und wagt einen Ausblick in künftige Forschungsutopien.
Prof. Dr. Dr. med. Ulrich Mueller
Quelle: BiB
Herr Professor Mueller, was sind die Themen, die auf dem Seminar behandelt wurden?
Wir beobachten, dass die Verteilung von Todesursachen – etwa die Gruppen Herz-und Kreislaufkrankheiten, Krebs, Stoffwechselerkrankungen, neurodegenerative Erkrankungen, rheumatische Erkrankungen, Infektionskrankheiten – in ansonsten in der allgemeinen Lebenserwartung ähnlicher werdenden Gesellschaften erheblich variiert. Seit über einer Generation sterben in Oberfranken Männer mehr als 1,5 mal so häufig an koronarer Herzkrankheit als in Oberbayern. Solche Unterschiede zwischen Nationen oder Regionen haben sich auch anderswo im Laufe der Jahre wenig geändert. Die Frage ist: Warum ist das so, worin liegen die Ursachen?
Warum ist die Erforschung der Todesursachen wichtig?
Die Todesursachen greifen nicht im selben Alter bei jedem, an manchen Krankheiten stirbt man früher, an manchen später. Die Frage ist: Gibt es einen kausalen Zusammenhang? Wenn zum Beispiel eine Population seltener an der Ursache A stirbt, müssen Todesfälle durch andere Ursachen häufiger werden. Die Frage ist, ob hier ein rein zufälliges Losverfahren greift, oder ob es Ersatzmechanismen in Form einer Austauschbeziehung also eines Trade-off, gibt, die hier greifen. Dies sind die Fragen für die spezielle Forschung.
Welche Potenziale sehen Sie für eine Verlängerung der Lebenserwartung?
Zunächst einmal: Es scheint bei der Lebenserwartung keine evidente Grenze zu geben, bei der man sagen kann, da ist am häufigsten das Leben beendet. Es gibt allerdings eine Grenze in der menschlichen Lebenszeit, also irgendeinen Mechanismus, der uns abschaltet. Erwägen Sie beispielsweise, dass das mediane Sterbealter für deutsche Männer knapp unter 80, das deutscher Frauen bei 85 Jahren liegt. Die ältesten Männer wurden etwa 115, die ältesten Frauen wurden etwa 120 Jahre alt. Mit anderen Worten: 50 Prozent aller in Deutschland lebend Geborenen erreichen mehr als zwei Drittel der bisher beobachteten maximalen Lebenszeit. Bei den allermeisten Pflanzen oder Invertebraten (das heißt wirbellosen Tieren) liegt demgegenüber das mediane Sterbealter bei einem winzigen Bruchteil der maximal beobachteten Lebensspanne.
Gibt es Unterschiede innerhalb Europas hinsichtlich der Lebenserwartung?
Ja, wobei Deutschland nicht zur absoluten Spitzengruppe gehört. Nach den aktuellen Zahlen liegt Deutschland auf Rang 16, mit 2,7 Jahren Abstand (1,9 für Frauen, 3,6 Jahren für Männer) zum Spitzenreiter Schweiz. Selbst innerhalb Deutschlands gibt es erhebliche Unterschiede bei der Lebenserwartung. Wenn Sie zum Beispiel das Saarland und Sachsen-Anhalt mit dem Süden von Baden-Württemberg vergleichen, dann sind das schon Unterschiede in der Größenordnung von zwei bis zweieinhalb Jahren.
Warum liegt Deutschland in Europa nicht mit an der Spitze?
Keiner weiß es sicher, aber es gibt ein paar Möglichkeiten. So kommen die älteren Männerjahrgänge der ehemaligen DDR, die sehr gesundheitsgefährdende Arbeitsplätze gehabt haben, jetzt in das Alter, in dem die meisten Todesfälle geschehen. Das drückt die durchschnittliche Lebenserwartung. Hinzu kommt eine ungesunde Lebensweise. Auch wenn sehr viel Geld in die medizinische Versorgung gesteckt wird, muss die Frage gestellt werden, ob dies auch optimal geschieht. Als Beispiel nenne ich hier England: Das Land hat kein so gutes Gesundheitssystem wie Deutschland, dafür aber eine bessere integrierte ambulante und stationäre Versorgung von Diabeteskranken.
Zum Seminar: Welche Erkenntnisse aus den Beiträgen haben Sie überrascht?
Überrascht haben mich die Vorträge der indischen Kollegen. Ich wusste nicht, wie riesengroß gerade in Indien die Unterschiede bei der Lebenserwartung sind. So gibt es zum Beispiel im Bundessstaat Kerala im Süden beziehungsweise Südwesten des Landes eine Bevölkerung mit einer Langlebigkeit, die mit etwa 75 Jahren der in Bulgarien oder Rumänien entspricht. Im Gegensatz dazu unterscheiden sich Bundesstaaten wie Uttar Pradesh oder Assam im Norden beziehungsweise Nordosten Indiens in diesem Parameter nicht wesentlich vom Mittelfeld afrikanischer Gesellschaften.
Was sind derzeit die aktuellen Forschungsthemen auf dem Gebiet der Langlebigkeit?
Nun, aktuell ist es folgende Frage: Welche Gene steuern die Langlebigkeit? Es geht darum zu verstehen, wie sie mit der Umwelt interagieren und zu lernen, wie der Alterungsprozess von innen wie von außen gesteuert wird. Mithilfe von bildgebenden Verfahren wie der Magnetresonanztherapie oder Röntgen wird heute versucht, die Todesursachen zu bestimmen. Die Zukunftsperspektive wird sein, unter Zuhilfenahme technischer Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz, bei allen Verstorbenen ohne Körperöffnung die Todesursachen nur durch bildgebende Verfahren und Auswertung durch eine entsprechende Software zu ermitteln.
Wie schnell dies allerdings umgesetzt werden kann, ist wie immer eine Frage des Geldes. Gegenwärtig gibt es eine solche Software noch nicht, aber vielleicht bald. Für Flugzeugsicherheit und Flugverkehr, zur Wettervorhersage, zur Vorhersage von Meeresströmungen und dergleichen Gemeinwohlaufgaben müssen ebenfalls riesige Datenmengen untersucht werden.
Das Seminar war interdisziplinär ausgerichtet. Welches Resümee können Sie ziehen, wenn Sie die verschiedenen Ansätze vergleichen?
Ich denke, die Demografie ist, ebenso wie die Bevölkerungsepidemiologie, bei der Methodik zwar weiter als die meisten quantitativen Sozialwissenschaften, aber noch nicht auf dem Niveau der klinischen Epidemiologie, das heißt der Interventionswirksamkeitsepidemiologie. So werden sowohl in der Demografie als auch in der Bevölkerungsepidemiologie explorative Studien durchgeführt: Es wird geschaut, was geschieht, dann wird ein halbwegs stabiler statistischer Zusammenhang gefunden und nachträglich eine Erklärung dafür ausgedacht, was wohl dafür die Ursache sein könnte. Damit liegen wir aber, was die methodische Strenge betrifft, weit hinter der klinischen Epidemiologie zurück. Diese ist eine Interventionswirksamkeitstestung unter kontrollierten Bedingungen und mehr als ein Herumstochern im Nebel.
Was bringt die Verknüpfung der Todesursachenforschung in Bezug auf die Verlängerung der Lebenserwartung?
Lassen Sie mich mit einem Beispiel antworten: Gebärmutterhalskrebs beginnt früher als Brustkrebs und dieser wiederum früher als Speiseröhrenkrebs. Die Verteilung der Häufigkeit des Sterbens an diesen drei Krebsarten verschiebt sich durch Früherkennungsmaßnahmen und dadurch verschieben sich die Häufigkeiten von Todesfällen an diesen drei Krebsarten ebenso wie das durchschnittliche Sterbealter an tödlich verlaufenden Fällen dieser Krebserkrankungen.
Das Interview führte Yvonne Halfar (BiB). Ein ausführlicher Bericht zum Seminar folgt in der nächsten Ausgabe von Bevölkerungsforschung Aktuell.